Im Goldrausch des Streamingzeitalters

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Seit immer mehr Anbieter ihr Glück im Streaming suchen und um neue Abonnent/-innen buhlen, ist lokaler Content wertvoll wie Goldnuggets. Welche Strategien verfolgen die Plattformen – und welche Konsequenzen haben diese für Europas Produzent/-innen und Förderungen? Eine Spurensuche im neuen TAKE Dossier

„Kundinnen und Kunden wollen auch in Zukunft qualitativ hochwertige Inhalte, und die werden sie auch weiterhin bekommen. Darin sehe ich gar kein Problem“, sagt Sabine Anger – verantwortlich für Asien, Mittel- und Nordeuropa bei Paramount Global – bei einer Paneldiskussion im Rahmen der Filmkonferenz INCONTRI #11 in Meran, organisiert von IDM Film Commission. Eines scheint festzustehen: Wir erleben auch in Europa einen Goldrausch des Streamings, bei dem immer mehr Streaminganbieter um die Gunst der Abonnenten buhlen – und lokaler Content aus der Produktionslandschaft gefischt wird wie einst die Goldklumpen aus dem Yukon. Und das obwohl in diesem immer volleren Markt ausgerechnet die Pioniere Zeichen der Ermüdung zeigen: Dass Netflix erstmals nach zehn Jahren rückläufige Zahlen vermeldet (im ersten Quartal 2022 gab die Plattform gegenüber ihren Aktionär/-innen einen Rückgang von 200.000 Abos bekannt, laut Vorhersagen könnten es bald bis zu zwei Millionen werden), ist eine Alarmglocke, deren Klang bisher ungehört verhallt.

„Nutzerinnen und Nutzer der Streamingplattformen werden weiterhin Qualitätsinhalte suchen“, so die optimistische Einschätzung von Sabine Anger. Die entscheidende Frage ist demnach: Wo suchen sie?

Die Plattform Paramount+, deren Launch in Italien, Deutschland, Österreich und Frankreich für „die zweite Jahreshälfte“ geplant ist, wird der jüngste in einer ganzen Reihe aktiver Streamingdienste in Europa sein, die SVOD (streaming video on demand, im Abo-Modell), TVOD (transactional video on demand, im Onlineverleih) und AVOD (advertising-based video on demand, mit Werbung) in die Wohnzimmer bringen. In Italien etwa ist die Anzahl solcher Plattformen und Streamingdienste seit dem Start von Netflix im Jahr 2015 bis heute stetig weitergewachsen, von den internationalen Akteuren Disney+, Amazon Prime Video und Apple TV+ über italienische Streamer wie Starzplay, Timvision, Chili und Mubi bis hin zu Iwonderfull, Nexo+, Infinity+, Now (Sky) und Pluto TV. In den deutschsprachigen Nachbarländern sieht die  Streaminglandschaft ähnlich aus. Für den Neuzuwachs Paramount+ liegt der Schlüssel zum Erfolg in der „Differenzierung“: mit einer abo-basierten Plattform, also Paramount+, auf der einen Seite und Pluto TV als Gratisplattform, die Klassiker und Inhalte mit Werbung zeigt, auf der anderen. Von größter Bedeutung ist jedoch für alle Konkurrenten gleichermaßen, dass ihr „Paket“ für die Kundinnen und Kunden Wiedererkennungswert hat: Proprietäre Marken – wie etwa das Marvel-Universum für Disney oder Star Trek für Paramount+ – müssen einer Plattform zuordenbar sein. „Keine Franchise-Serie im Programm zu haben, die unmittelbar mit unserem Dienst in Verbindung gebracht wird, ist ein klarer Nachteil“, räumte Netflix-Mitbegründer Reed Hastings damals bei der Eröffnung der römischen Niederlassung ein, „doch dadurch werden wir auch gezwungen, auf Originalinhalte zu setzen und immer auf dem neuesten Stand zu bleiben. So können wir uns als die Streamingheimat für innovative Inhalte positionieren.“

DIE PSYCHOLOGISCHE KOMPONENTE

Laut Medienanalysen wollen Userinnen und User aber nicht immer nur mit Neuigkeiten überrascht werden, sondern auch mit Bekanntem abgeholt und „weitergebildet“ werden, wie Sabine Anger in Meran bei ihrer Präsentation der Markteinführungsstrategie von Paramount+ unterstrich. Auch weil nach Meinung von Psycholog/-innen selbst eine Marktübersättigung nichts daran ändert, dass Menschen immer gewillt sein werden, Geschichten zu konsumieren. „Auf Bildern basierende Geschichten, von den Höhlenmalereien bis zum Streaming, ist seit der Steinzeit ein fester Bestandteil des menschlichen Entwicklungsprozesses,“ findet Frank Schwab, Professor für Medienpsychologie an der Universität Würzburg. „Diese Erzählungen erfüllen unsere ureigensten Bedürfnisse, spiegeln unsere Wünsche wider, belohnen uns, helfen gegen Einsamkeit, regulieren unsere Stimmungslage und schaffen soziale Verknüpfungen, indem sie Themen aufwerfen, die wir mit Unseresgleichen diskutieren können.“ Nur ein Faktor wird sich in der Psychologie der Nutzer/-innen in Zukunft wohl ändern: Wie viel sie bereit sind, für ihre Geschichten zu bezahlen. Während Netflix als Reaktion auf die kürzlichen Abo-Einbrüche angekündigt hat, ein „Light“-Abonnement einführen zu wollen, bei dem Inhalte mit Werbeunterbrechungen gezeigt werden, fährt Paramount+ in den USA bereits jetzt auf doppelter Schiene, mit Inhalten mit und ohne Werbung, und will diesem „hybriden Weg“ weiter folgen. In dieselbe Kerbe schlägt Amazon mit Freevee, dem ehemaligen IMDb TV. Kurzum: Alle lieben Geschichten. Umso mehr, wenn sie weniger kosten.

„Uns sind alle neuen Anbieter herzlich willkommen, denn Konkurrenz führt zu mehr Qualität. Nur durch die Qualität unserer Geschichten, auch jener unserer Mitbewerber, können wir mit unserem Angebot die wahre Konkurrenz besiegen: TikTok und YouTube, die für die Jugendlichen zu Leitmedien werden.“

-Reed Hastings, Co-Founder & Co-CEO Netflix

DAS WETTRENNEN UM LOKALEN CONTENT

Schlüssel zum Erfolg im Rennen der Streamingdienste ist, wie sämtliche CEOs der Plattformen nicht müde werden zu wiederholen, einzig und allein der Content. Und zwar nicht irgendwelcher – sondern lokaler Content. Lokale Geschichten, lokale Protagonist/-innen, einheimische Produktionen, an Orten gedreht, die die Bevölkerung erkennt. „Dass immer mehr Anbieter auf den Markt strömen, ist eine gute Nachricht für Autorinnen und Autoren, deren Möglichkeiten dadurch immens gewachsen sind“, findet der Drehbuchautor Nicola Guaglianone, der für Amazon Prime die Serie Vita da Carlo geschrieben hat. „Aber gleichzeitig müssen wir jetzt die Rechtefrage neu aufrollen: Wenn der Wert der Produktionen steigt, dann muss sich das auch in höheren Honoraren für all jene widerspiegeln, die mit einem kreativen Zündfunken den ganzen Produktionsprozess überhaupt erst ins Rollen bringen. Ideen und Konzepte müssen entsprechend bezahlt werden. Andernfalls profitieren einfach nur große Unternehmen von den Ideen anderer.“ Auf lokale Inhalte setzt nicht nur der Marktneuling Paramount+, sondern auch Disney+, wie in Meran von der Bereichsleiterin für Originalproduktionen bei Disney, Benjamina Mirnik-Voges, zu hören war. Bis 2024 kündigt Disney in Europa 60 „neue Shows“ an. „Es sind starke Geschichten mit Lokaleffekt“, erklärt Mirnik-Voges, „die mit den Märkten vor Ort in einen Dialog treten.“ Wer schon immer auf „local content“ geachtet hat, ist der Pionier Netflix, der zu diesem Thema auch eine ganz klare Meinung vertritt: „Uns sind alle neuen Anbieter herzlich willkommen, denn Konkurrenz führt zu mehr Qualität. Nur durch die Qualität unserer Geschichten, auch jener unserer Mitbewerber, können wir mit unserem Angebot die wahre Konkurrenz besiegen: TikTok und YouTube, die für die Jugendlichen zu Leitmedien werden.“

EINE FRAGE DES GELDES

In Italien haben der staatliche Tax Credit und die Aufbruchsstimmung nach der Corona-Krise, aber auch der Wettbewerb unter Streamingdiensten um die besten Inhalte, zu einem enormen Boom von Filmprojekten geführt, was sich laut den Daten des Filmdachverbands ANICA in einem Anstieg neuer brancheninterner Arbeitsplätze um 77 Prozent in nur einem Jahr niederschlägt. „Mehr Wettbewerb diversifiziert das Feld der beteiligten Player, und mehr Wettbewerb führt zu besserer Qualität“, reflektiert Nicola De Angelis von Fabula Pictures und Produzent der erfolgreichen Netflix-Serie Baby, der aktuell für die gleiche Plattform an der neuen Serie Briganti arbeitet. „Es gibt aber auch kritische Aspekte. Im Produktionsbereich sind wir mittlerweile zu viele. Man hat allen die Tür geöffnet und verlangt nicht näher definierte ‚hochwertige Produkte‘, was uns alle zu einfachen Inhaltslieferanten degradiert. Aber wir sind Produzenten, keine Lieferanten. Produzentinnen und Produzenten sind talentierte Profis, und als solche sollten sie auch behandelt werden. Sie verdienen Respekt für das finanzielle Risiko, das sie eingehen, und für die Sorgfalt, mit der sie sich – idealerweise – ihrem Produkt widmen. Was das Kreative angeht, lassen uns die Streamingdienste freie Hand, das stimmt. Aber was die ‚Deals‘ betrifft, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, da haben wir kaum Freiheiten. Die Streamingriesen sind zu stark. Was unsere Branche nun braucht, sind Produzentinnen und Produzenten, auch kleine Firmen, die auch mal Nein sagen können.“ Ähnliche Töne kommen auch von Gianluca Curti von Minerva Pictures. Angesichts der „unglaublich hohen production values“, die Disney oder Apple verlangen, sei es erforderlich, hierzulande die Qualitätsstandards zu erhöhen – und dies verlange ein neues Wirtschaftsmodell: eine weitreichende, ehrliche und demokratische Partnerschaft zwischen den großen Streaminganbietern und unabhängigen Produzentinnen und Produzenten, denn natürlich sind es die großen Player, die viel Geld auf den Tisch legen, aber es liegt in der Hand der Produzent/-innen, es sinnvoll einzusetzen.“

Am Ende bleibt noch eine wichtige, bisher ungelöste Frage im Raum stehen: Wie legitim ist die Vergabe öffentlicher Fördergelder – auf europäischer, aber auch regionaler Ebene – für Projekte der großen Streaminganbieter? Dazu äußerte sich bei der INCONTRI-Konferenz Birgit Oberkofler, Leiterin der Südtiroler Filmförderung: „Wir verschließen uns nicht gegenüber der Welt des Streamings, ganz im Gegenteil, aber wir dürfen auch nicht vergessen, was unsere Aufgabe ist und aus welchem Grund es uns überhaupt gibt. Daher ist es für uns essentiell, genau abzuwägen, wer die öffentlichen Gelder wirklich braucht, und für welches Projekt. Arten der Zusammenarbeit gibt es viele, aber unser Entschluss ist, keine Gelder für Projekte freizugeben, an denen die Produzentin oder der Produzent nicht die Rechte hält. Damit bezwecken wir eine Stärkung unabhängiger Produktionen.“ So soll verhindert werden, dass im Rennen um die größten Goldklumpen das Sieb der kleinen Produzentinnen und Produzenten leer bleibt.

 

„The Evolution of Streaming Strategies“: Die strategische Entwicklung der großen Streamingplattformen angesichts neuer Konkurrenz und Markfragmentierung, psychologische Auswirkungen auf das Publikum und wirtschaftliche Folgen für die Produktionsbranche sowie einschlägige Vorgaben der europäischen Förderfonds: Diese und andere Themen kamen bei der Filmkonferenz INCONTRI #11 vom 26. bis zum 29. April in Meran zur Sprache, wo sich um die hundert Entscheidungsträger/-innen der Filmbranche versammelten. Neben dem Ausbau der beruflichen Netzwerke wurden zu diesem Anlass die großen Herausforderungen von heute und morgen erörtert, von den Strategien der Streamingdienste bis hin zu Fördermöglichkeiten. Hier finden Sie eine Zusammenfassung der Konferenz zum Nachlesen.

Text Ilaria Ravarino
Illustration Oscar Diodoro
Veröffentlicht am 17.05.2022