Vom Straßenkind zum Nobelpreisträger

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Hill of Vision: die Entdeckung Amerikas in Südtirol und die unglaubliche Geschichte des Mario Capecchi.

Die unglaubliche Lebensgeschichte von Mario Capecchi beginnt in Südtirol. Von Bozen führt sie in die USA und findet ihren Höhepunkt in Stockholm. Und: Sie ist noch nicht zu Ende. Denn der Mann, von dem sie handelt, erfreut sich bester Gesundheit. Trotzdem entschied die erfahrene Produzentin Elda Ferri, dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen sei, diese Geschichte in dem Film Hill of Vision (Arbeitstitel: Resilient) zu erzählen, den Ferris Produktionsfirma Jean Vigo Italia gemeinsam mit Rhino Films und Rai Cinema realisiert. Der Plan, das Leben von Mario Capecchi zu verfilmen, entstand bereits vor zwölf Jahren. 2020 war es endlich soweit, die Produktion konnte beginnen – mit vielen Herausforderungen durch die Covid-19-Pandemie.

Mario Capecchi ist erst fünf Jahre alt, als seine Mutter – eine überzeugte Antifaschistin – in ein Konzentrationslager verschleppt wird. Sie schafft es gerade noch, den Jungen in die Obhut einer Bauernfamilie auf dem Ritten oberhalb von Bozen zu geben. Hier setzt Hill of Vision an. Wir schreiben das Jahr 1943, eine harte, finstere Zeit. Mitten im Zweiten Weltkrieg haben die Bauern, denen der kleine Mario anvertraut wurde, nicht mehr die Mittel, ihn zu versorgen – und setzen ihn aus. So wird der Fünfjährige zum Vagabunden, der in Bozen und den umliegenden Dörfern umherstreift.

„Mehr als die Hälfte des Films handelt von dieser Zeit“, sagt Regisseur Roberto Faenza, der auch das Drehbuch schrieb. „Seit ich die Geschichte von Capecchi zum ersten Mal gelesen und auch mit ihm gesprochen habe, frage ich mich ständig, wie es nur möglich war, dass ein Kind vom fünften zum zehnten Lebensjahr allein überleben konnte – ohne je eine warme Mahlzeit zu bekommen.“

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Die besondere Resilienz und Widerstandskraft, die Mario Capecchi bereits als Kind auszeichnete, macht seine Lebensgeschichte so beeindruckend. Auch Produzentin Elda Ferri wurde vor zwölf Jahren in ihren Bann gezogen, als sie auf einer Konferenz in Bologna zum ersten Mal mit Capecchi in Kontakt kam. Sie hatte in der Zeitung von der Veranstaltung erfahren und intuitiv gespürt, dass es hier etwas zu entdecken gab. „Ich wollte diesen Menschen sofort kennenlernen“, erinnert sich Ferri. „Zum Glück kannte er den Film La vita è bella, den ich gemeinsam mit Gianluigi Braschi produziert hatte. Das half mir, ihn zu überzeugen, dass sein unglaublicher Lebenslauf ein wunderbarer Film sein könnte.“

Drei Kinder auf der Straße

In all den Jahren als Straßenjunge in Bozen überlebt Capecchi auch dank der Hilfe anderer Kinder, mit denen er eine Bande gründet. Hier im Drehbuch Details dazuzudichten ist unnötig: „Im Gegenteil!“, sagt Roberto Faenza. „Wir haben sogar das ein oder andere rausgenommen, sonst glaubt uns doch kein Mensch, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt! Drei Kinder – sechs, acht und viereinhalb Jahre alt, das letzte taubstumm und unter einem Schutthaufen gefunden – bilden eine kleine Familie, unterstützen einander und überleben, indem sie betteln, stehlen und an das Mitleid reicher Damen appellieren. Es ist eine wahnsinnig rührende Geschichte.“

Eine derartige Produktion auf die Beine zu stellen ist schon in normalen Zeiten kein Spaziergang, aber als endlich alles bereit für den Drehstart war, kam die Pandemie. Es war März 2020, wie viele andere Produktionen wurde Hill of Vision auf Eis gelegt, noch bevor die ersten Aufnahmen beginnen konnten. Das Produktionshaus Jean Vigo Italia entschied, zum erstmöglichen Zeitpunkt weiterzudrehen und tat das im Juni, unter Einhaltung der geltenden Sicherheitsbestimmungen. „Wir haben allein 108.000 Euro für Covid-Tests ausgegeben, am Set gleich drei Covid-Beauftragte ernannt und die Hauptdarstellerin, die Mitglied der amerikanischen Schauspielergewerkschaft SAG ist, drei mal pro Woche getestet“, erzählt uns Elda Ferri während eines Besuchs am Set in Meran. „Und dabei ist der Extraaufwand für die Einhaltung der Abstandsregeln und die allabendliche Desinfektion des gesamten Sets inklusive Kostümen und einer 300 Quadratmeter großen Schneiderei noch gar nicht eingerechnet.“ Letztere steht übrigens unter der Leitung von Milena Canonero, der vierfachen Oscar-Preisträgerin fürs Kostümbild.

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Pennsylvania und Art Déco

Da Hill of Vision zu großen Teilen ein Filmstoff aus Südtirol ist, war von Anfang an geplant, fast zur Gänze in Südtirol zu drehen und konnte so auch von der Produktionsförderung der Südtiroler Filmförderung IDM profitieren. Doch der zweite Lebensabschnitt Mario Capecchis spielt nicht in den Alpen, sondern in Amerika. Der Junge erkrankt an Typhus und wird in Reggio Emilia im Krankenhaus behandelt. Dort findet ihn seine Mutter mit Hilfe des Roten Kreuzes wieder und emigriert nach seiner Genesung mit ihm nach Pennsylvania, wo ihr Bruder und dessen Frau für die Ausbildung des Jungen sorgen sollen. Von hier an sollte der Film in den USA gedreht werden, die Locations standen bereits fest. Aber manchmal kommt eben alles anders: Die Pandemie machte einen Dreh in den USA undenkbar.

Location Managerin Valeria Errighi gelang es, mitten in Südtirol ein kleines Amerika zu entdecken. Danach übergab sie das Ruder an Giuseppe Zampella aus Mailand, der seit sechs Jahren in Bozen lebt und hier seit seinem ersten Einsatz am Set von Terrence Malick’s A Hidden Life erfolgreich als Location Manager tätig ist.

Für Hill of Vision siedelte die Produktion Pennsylvania auf dem Salten an, einem Hochplateau mitten in Südtirol: „Die Berge und die Vegetation hier eignen sich perfekt für den amerikanischen Teil der Geschichte“, sagt Zampella und fügt hinzu, dass es überraschend leicht gewesen sei, eine Landschaft zu finden, die in den USA liegen könnte. Roberto Faenza bezeichnet es sogar als Glücksfall, dass man nicht an den Originalschauplätzen in Amerika gedreht hat, denn diese, so der Regisseur, hätten sich seit den 1950er-Jahren sehr verändert. In Südtirol hingegen fand die Produktion Orte, die so aussehen, wie Amerika damals gewesen sein muss. Und was fehlte, wurde nachgebaut: ein ganzes Quäkerdorf mit fingierten Häuserfassaden und einem Schulgebäude sowie eine historische Arztpraxis in Meran.

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Schwieriger wurde es bei den Innenräumen: „Südtiroler Häuser haben innen einen ganz eigenen Stil, wir brauchten aber einen für die 1930er-Jahre in den USA typischen Art-Déco-Bau, der in unseren Breiten schwer zu finden ist“, sagt Zampella, dessen Job in solchen Fällen darin besteht, herumzufahren und mit Menschen zu plaudern, um die richtigen Motive aufzuspüren. „Am Anfang treibst du dich aus logistischen Gründen im Umkreis der anderen Locations herum, kommst vielleicht mit Einheimischen ins Gespräch, erklärst, was du machst, zeigst ein Foto von dem, was du suchst, und oft kennen die Leute dann jemanden, der in so einem Haus wohnt.“

Für die Einrichtung der Innenräume zeichnet der renommierte Szenenbildner Francesco Frigeri verantwortlich, der auch die amerikanischen Dörfer und das Szenenbild für die Überfahrt nach Amerika gestaltete. Für letztere wurde im Studio ein Schiffsdeck nachgebaut, im Hintergrund ein Green Screen, über den die Bilder der Schiffsreise digital eingespielt werden.

Ein Südtiroler Epos

Im Film beginnt hier das Leben Capecchis in Amerika. Die Lehrer zweifeln bald an der Intelligenz des Jungen, weil er weder lesen noch schreiben kann und nichts von einem normalen Leben weiß, geschweige denn Englisch spricht. Erst seine Verwandten, die einen naturwissenschaftlichen Hintergrund haben (ein Onkel war sogar an der Entwicklung des ersten Farbfernsehers beteiligt), erkennen, wie sich das Potenzial des Jungen entfalten lässt.

Am Tag unseres Besuchs am Set werden gerade diese Szenen gefilmt: In der Cesare-Battisti-Kaserne in Meran ist eine ganze Schule perfekt nachgebildet. Dieser Drehort ist ein Beweis dafür, wie viel sich in der Südtiroler Filmwirtschaft in den letzten zehn Jahren getan hat. Der massive Anstieg von Filmproduktionen hat auch zu einem Umdenken bei Motivgebern geführt, sodass etwa die riesigen ungenutzten Räumlichkeiten der Kaserne heute regelmäßig Filmproduktionen beherbergen. „Das sind fast schon kleine Studios“, sagt Giuseppe Zampella, „abgeschlossene, geschützte Grundstücke mit vielen leeren Gebäuden und Flächen, die sich für verschiedenste Projekte anbieten, bis hin zu Horrorfilm und Thriller. Wir konnten hier ein Polizeikommissariat nachstellen, ein Waisenhaus, eigentlich alles! Und nicht nur hier wurde unsere Produktion mit offenen Armen empfangen. Auch Leute, die keine Erfahrung mit Filmsets haben und Bedenken hatten, stellten uns Drehorte zur Verfügung, sobald sie die Geschichte von Hill of Vision hörten. Diese Geschichte hat noch jeden überzeugt, auch weil es sich um ein echtes Südtiroler Epos handelt.“

Auch der Filmstandort hat zu dieser Entwicklung beigetragen, unterstreicht Zampella: „Zwar holt Südtirol immer noch vor allem auswärtige Produktionen ins Land, aber man beginnt auch selbst mit dem Produzieren.“ Einige Weiterbildungsmöglichkeiten dafür gibt es bereits: Auch Giuseppe Zampella schloss seine Ausbildung in Südtirol ab, neben vielen anderen lokalen Filmschaffenden, die für Hill of Vision im Einsatz waren.

Stunts und Stockholm

„Es gibt hier enormes Know-how in den verschiedensten Departments. Und erst der Schauspielnachwuchs! Die Kinder, die in den Schulszenen auftreten, sind großartig und sehr intelligent. Sie verstehen einfach alles“, sagt Regisseur Faenza begeistert. Als Beispiel für die große Professionalität der Südtiroler Crewmitglieder nennt er den Stunt Coordinator Jakob Watschinger: Produktionsleiterin Raffaella Cassano bezeichnet ihn als einen der besten, mit denen sie je gearbeitet hat. Oder das SFX-Studio Impact Productions, das etwa eine Explosion inszeniert hat: Der junge Capecchi zettelt diese im Schulbus an, um einem gemeinen Mitschüler eins auszuwischen.

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Für Mario Capecchi gehört diese Zeit zu den schwierigsten und spannendsten in seinem Leben: In der neuen amerikanischen Schule kann er sich aufgrund der Aggressivität, die er in den Jahren als Straßenkind entwickelt hat, nur schwer integrieren. Seine Verwandten helfen ihm, seine Aggressionen im Sport auszuleben, beim Ringen lernt er, sie zu kontrollieren. Eben für diese Kampfszenen zeichnete der Stunt Coordinator verantwortlich.

1947 ist Mario Capecchi so weit, dass er ein normales Leben führen kann – und hier endet der Film. „Was wir erzählen wollen, ist eben seine Eingliederung in eine neue Gesellschaft und in eine neue Lebensweise, mit der Resilienz im Gepäck, die er in seinen ersten Lebensjahren erworben hat“, sagt Roberto Faenza. Der Regisseur lässt es sich aber nicht nehmen, im Film doch noch eine spätere Episode zu erzählen: Mario Capecchi meistert seine anfänglichen Probleme in den USA, wird Genforscher – und erhält Jahrzehnte später für seine Arbeit gemeinsam mit den Kollegen Martin Evans und Oliver Smithies den Medizin-Nobelpreis. Dieser emotionale Abschluss stellte das Produktionsteam vor eine letzte große Herausforderung: Mit modularen Bauteilen gelang es, in einem Südtiroler Studio die Fassade des Stockholmer Konserthuset nachzubauen, in dem Capecchi den Preis in Empfang nimmt – als Krönung eines unglaublichen Lebens.

Text GABRIELE NIOLA
Foto JEAN VIGO ITALIA/RICCARDO GHILARDI/LUCA ZONTINI
Veröffentlicht am 28.02.2022

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