Mutiges Kinodebüt und einfühlsame Adoptionsgeschichte

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Ein Beispiel einer reibungsarmen italienisch-lettischen Koproduktion dank europäischer Netzwerk- und Förderstrukturen: Linda Oltes Sisters.

Ihre Mutter sitzt im Gefängnis, deshalb leben die jungen Schwestern Anastasija und Diana in Lettland in einem Waisenhaus. Als sich herausstellt, dass eine amerikanische Familie überlegt, die beiden zu adoptieren, stehen sie vor einer schwerwiegenden Entscheidung. Diana ist sofort Feuer und Flamme für ein Leben in den USA, Anastasija ist zögerlicher und nicht davon überzeugt, dass sie überhaupt adoptiert werden will. Inmitten der Suche nach einer Entscheidung erfährt sie, dass ihre leibliche Mutter längst aus dem Gefängnis entlassen wurde – und für Anastasija scheinen wieder alle Wege offen für das ersehnte Leben. Doch ihre Mutter ist zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, um für Anastasija da zu sein.

Sisters (Māsas) ist das Kinodebüt der Regisseurin Linda Olte, die zuvor vorrangig für das lettische Fernsehen gearbeitet hat. In der ersten Juniwoche endeten die Dreharbeiten mit mehreren Drehtagen in Südtirol, die meisten davon mit Innenaufnahmen. Der Film ist eine Koproduktion der Rigaer Produktionsfirmen Fenixfilm und Deep Sea Studios mit Albolina Film aus Bozen.

Die Produktionsgeschichte von Sisters beginnt mit einem anderen Film. Produzent und Regisseur Matīss Kaža suchte für seinen lettischen Western Wild East (früherer Arbeitstitel Where the Road Leads) Berge, Kameramann Aleksandrs Grebnevs kannte die Südtiroler Berglandschaft aus seiner Studienzeit. Für den Dreh in Südtirol – das Projekt wurde auch von der IDM-Filmförderung unterstützt – engagierte Kaža die Albolina Film, die neben eigenen Produktionen auch Produktionsservices anbietet. Die Zusammenarbeit verlief gut, die Idee zu einem gemeinsamen Projekt war geboren. Wieder war Grebnevs beteiligt: Er gab 2019 den Anstoß für das Projekt, indem er Produzent Matīss Kaža die Regisseurin Linda Olte vorstellte.

Bei der Entwicklung bewährte sich die europäische Infrastruktur für Filmentwicklung: Die Produktion bewarb sich auf den vor erst drei Jahren gegründeten Italian Baltic Development Award, der von MiC, Lithuanian Film Centre, Estonian Film Institute und National Film Centre of Latvia vergeben wird – und gewann. Der Preis wurde letztes Jahr im Rahmen des Triester Koproduktionsforums „When East Meets West“ bekannt gegeben. Das Drehbuch wurde unter anderem im Rahmen eines Workshops des Programms „Sources 2“ entwickelt; im Herbst letzten Jahres nahm das Team mit dem Projekt am Warschauer Koproduktionsmarkt für europäische Kinderfilme „Kids Kino Industry“ teil. Und die Finanzierung für Sisters kam von der Südtiroler Filmförderung (IDM), vom Nationalen Film Zentrum Lettland, Eurimages sowie dem italienischen Tax Credit.

Italienisch-lettischer Common Ground

Am 20. März begannen die Dreharbeiten ein erstes Mal, doch gleich nach dem ersten Drehtag war ein Crewmitglied beim Covid-Test positiv – und der Dreh vorerst beendet. Am 18. April ging es endlich weiter, allerdings mussten Absprachen zur Aufteilung der Crew nachjustiert werden, weil vorgesehene Crewmitglieder schon gebucht waren. Die weiteren gut 30 Drehtage verliefen aber reibungslos. Sowohl Wilfried Gufler von Albolina Film wie auch Matīss Kaža betonen, wie wichtig die Mischung aus Grundvertrauen und klaren Absprachen zwischen den Partnern in all diesen Aushandlungen der Koproduktion war. Die wichtigste Grundregel sei, so Gufler, der Ort gewesen: In Riga koordinierte die lettische Seite, in Südtirol Albolina Film.

Wie problemlos die Zusammenarbeit lief, zeigt sich darin, dass es nur Details waren, an denen es überhaupt Reibungen gab. Die unterschiedlichen Vorstellungen von Catering war so eines, die je nach Herkunftsland unterschiedliche Aufgabenbeschreibung von Departments eine andere. Bei all diesen Fragen, so betont Kaža, sei der eigentliche Lernprozess gewesen, dass es bei Filmproduktionen immer auch einen deutlichen Unterschied in den beiden Ländern gibt; 

Take

das muss einem bewusst sein, auch wenn man denkt, man arbeite auf dem gleichen Set. Die Lösung war dabei meist relativ einfach. Nur ein Unterschied machte sich wirklich bemerkbar: die zwischen Italien und Lettland verschiedenen Gepflogenheiten und Regelungen zu Arbeitsstunden pro Tag. Während in Lettland 12 Stunden pro Tag üblich sind, werden in Italien 10 Stunden pro Drehtag angesetzt. Aber auch dieser Unterschied wurde einfach bei den Drehtagen eingeplant und spielte dann keine weitere Rolle.

Der Pandemie zum Trotz

Die größte Herausforderung in Zeiten der Pandemie war das Reisen der Crewmitglieder. Gefragt, wie sich Covid auf den Dreh ausgewirkt habe, antwortet Wilfried Gufler zunächst knapp, die Pandemie mache eben „alles schwieriger und teurer“. Über die Monate des Ausnahmezustands hat sich ein Umgang herausgeprägt. Das Team wurde wöchentlich getestet und beim Dreh wurde – wo immer möglich – FFP2-Maske getragen. Gufler ergänzt: „Das ist alles unkritisch, wenn die Leute mal drehen und in ihrem Mikrokosmos sind, das Problem sind eher die Reisephasen. 

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Wenn die Mannschaft kompakt in einem Hotel untergebracht ist, kann man das gut handeln.“ Auch Matīss Kaža erinnert sich an viele Diskussionen übers Reisen der Crewmitglieder und die sich ständig ändernden Regelungen, wer wann wo welches Dokument vorlegen müsse oder wie alt Covid-Tests sein dürfen. Zu guter Letzt drohte – gerade als man glaubte, mit dem Gröbsten durch zu sein – ein neuerlicher Lockdown kurz vor Ende der Dreharbeiten.

Trotz alledem: Hört man den Koproduktionspartnern dieser Tage während der Pause zwischen Dreh und Postproduktion zu, kann das Virus der Stimmung bei der Produktion nicht viel angehabt haben. Wilfried Gufler schwärmt von der „frischen, tollen Produktion“, Matīss Kaža zeigt sich begeistert von der Atmosphäre am Set – und von der respektvollen Haltung gegenüber Produzenten und Filmemachern in Italien. Diese würden dort deutlich mehr „als Künstler und nicht so sehr als Teil einer Industrie“ gesehen. Auch Regisseurin Linda Olte zeigt sich im Nachhinein noch einmal beeindruckt, wie reibungslos der Dreh war. Das habe einerseits mit einem gewissen Pragmatismus zu tun, der nicht zuletzt dem Budget geschuldet sei, und andererseits mit dem eingespielten Duo der Kameramänner: Aleksandrs Grebnevs und der Südtiroler Harald Erschbaumer. Auf alle hat die Sprachvielfalt rund um den Set eine große Faszination ausgeübt. Während die Arbeitssprache aller miteinander Englisch war, fanden viele Gespräche am Rande in anderen Sprachen statt: auf Lettisch, Italienisch, Deutsch, Russisch.

Vor allem für die Regisseurin dürfte die Pause nach dem Dreh nur kurz währen. Olte, die in der Vergangenheit neben der Regie oft auch für die Montage der eigenen Arbeiten verantwortlich war, will bis Ende August einen Rohschnitt fertigstellen. „Ihr Baby“ dann abzugeben sei neu, aber auch richtig so, ergänzt sie im Gespräch. Die Koproduktion setzt sich auch in der Phase der Postproduktion fort: Komponist und Sound Designer werden aus Südtirol kommen. Bis Ende des Jahres soll der Film fertig sein, um ihn 2022 bei Festivals einreichen zu können.

Produzent Kaža weist darauf hin, dass die Pandemie die Hürden bei der Auswertung höher gelegt habe. Der Rückstau von Produktionen, die in den letzten 18 Monaten nicht auf Festivals laufen konnten, weil diese ausgefallen sind, oder nicht in Kinos starten konnten, weil diese geschlossen waren, macht sich bei Vertrieben und Verleihern bemerkbar. Für Lettland gebe es bereits einen Vertrag mit einem Fernsehsender. Bei den Vertrieben sei durchaus Interesse vorhanden, sodass sich Kaža zuversichtlich zeigt, dass der Film trotz Pandemie und der üblichen Zurückhaltung bei Erstlingswerken seinen Weg machen wird.

Die Produktion von Sisters ist ein Beispiel dafür, dass auch gemeinsame Filmprojekte zwischen europäischen Ländern, zwischen denen keine lange Tradition von Koproduktionen besteht, reibungsarm ablaufen können. Die europäische Infrastruktur bei der Stoffentwicklung und Filmförderung tragen dazu ebenso bei wie die persönlichen Beziehungen, die sich durch Ausbildung und Arbeitskontakte gebildet haben.

Text Fabian Tietke
Foto Toms Majors, Daniels Neguliners, Michael Lintner
Veröffentlicht am 14.01.2022

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