„Und etwas bewegt sich doch!“ Leihen wir uns doch kurz die Worte Galileo Galileis aus, um das Thema Diversität und Gender Gap vor und hinter der Filmkamera anzusprechen. „Etwas“, zum Beispiel mit dem Protest-Hashtag #OscarsSoWhite und den neuen Richtlinien für Oscar-Nominierungen, die ab 2024 die Beteiligung unterrepräsentierter Bevölkerungsgruppen im Cast, im Plot oder in der Crew des Films zwingend voraussetzen. Oder mit dem Skandal, der zur Neuorganisation der Golden Globes führte, nachdem der Vorwurf laut wurde, der Preis sei nicht inklusiv genug, mit der Entscheidung der Berlinale, genderneutral zu werden und mit der zweiten Ausschüttung 2024 von Eurimages. Der Kulturförderfonds des Europarats befasst sich seit 2012 mit der Gleichstellung der Geschlechter in der europäischen Filmindustrie, um diese zu unterstützen und zu fördern. Bei der Koproduktionsförderung unterstützte Eurimages letztens 31 Spielfilme mit 8.760.000 Euro, wobei 13 Projekte von weiblichen Regisseurinnen oder Co-Regisseurinnen stammen, was 49,54 % der insgesamt gewährten Mittel entspricht.
Aber auch wenn Greta Gerwigs Barbie – der 1,4 Milliarden US-Dollar einspielte und acht Mal für einen Oscar nominiert war – kürzlich unbestritten einen Riesenerfolg einbrachte, ist der Weg für Regisseurinnen schwieriger denn je und voller Hindernisse. Laut Hollywood Diversity Report, der jedes Jahr von der University of California herausgegeben wird, lag der Frauenanteil bei den Academy-Award-Nominierungen für Regie 2014 bei 4,1 % im Vergleich zu 95,9 % männlichen Nominierungen. Zehn Jahre später hat sich das Bild mit 14,7 % Regisseurinnen zu 85,3 % Regisseuren nur wenig verändert. Der Global Gender Gap Report 2023 des Weltwirtschaftsforums errechnet, dass es 131 Jahre dauern würde, bis eine völlige Gleichstellung erreicht ist. Doch nicht nur Frauen stehen vor diesem steinigen Weg, sondern auch alle anderen Minderheiten: BIPOC (Black, Indigenous and People of Colour, Anm. d. Red.), LGBTQIA+ oder Menschen mit Behinderung haben es schwer, ihrer Stimme Gehör und Raum zu verschaffen, ohne gegen Vorurteile ankämpfen zu müssen – und das in einer Branche, die eigentlich ein Spiegel unserer facettenreichen Gesellschaft sein sollte. Getragen von diesen Zeichen der schrittweisen Veränderung arbeiten zahlreiche Menschen und Initiativen täglich daran, ihrem gemeinsamen Ziel ein Stück näherzukommen: der Veränderung des Status Quo. Und zwar nicht nur in der Theorie, sondern mit konkreten praktischen Maßnahmen, die den audiovisuellen Sektor in Zukunft formen sollen.
KINO DER MÖGLICHKEITEN
Die deutsch-türkische Kuratorin, Speakerin, Filmwissenschaftlerin und Filmemacherin Canan Turan will etwas verändern und macht sich mit vollem Engagement für Diversität in allen Formen, für Inklusion und Antidiskriminierung in Film und Fernsehen stark – nicht zuletzt mit ihren Vorträgen und ihrem Podcast film.macht.kritisch.: „Bei vielen Menschen in der Filmindustrie sind Rassismus, strukturelle Diskriminierung, die Ausgrenzung von historisch marginalisierten Gruppen und weiße Privilegien sowie das Problem der fehlenden Diversität, Inklusion und Repräsentation angekommen“, sagt Turan. „In den letzten vier Jahren haben sich Wissen und Bewusstsein zu diesen Themen merklich gesteigert. Vorher wurden viele dieser Konzepte in der breiteren Öffentlichkeit und im kulturellen Bereich sowie in der Filmindustrie und den Medien kaum diskutiert, von einer Anerkennung gab es keine Spur. Doch seitdem Black Lives Matter zu einer globalen Bewegung für soziale Gerechtigkeit wurde und schließlich auch ein Streben nach mehr Diversität und Gleichberechtigung im Kunst- und Unterhaltungssektor angestoßen hat, kommt dem Kino im öffentlichen Bewusstsein eine größere Rolle zu, als nur eine Kunstform um der Kunst willen zu sein.“
„Sollten die Rechten in die Regierung kommen, oder auch nur stärkste Oppositionspartei werden, hätten sie genug politische Macht, um das deutsche Kino um zwanzig oder dreißig Jahre zurückwerfen.“
Erste Schritte in die richtige Richtung sind gemacht, aber welche Bedeutung haben sie für die Zukunft der Filmindustrie? „Angesichts der Tatsache, dass die Finanzierung von Filmen in Deutschland sehr stark von staatlichen Mitteln abhängt, sehe ich aufgrund der Erstarkung der politischen Rechten ehrlich gesagt eine sehr unsichere Zukunft“, so Canan Turan. „Es nähern sich die Bundestagswahlen 2025 und ich fürchte, dass all unsere Fortschritte für mehr Diversität, Inklusion und Gleichberechtigung in der Filmwelt sukzessive zunichte gemacht werden könnten. Sollten die Rechten in die Regierung kommen, oder auch nur stärkste Oppositionspartei werden, hätten sie genug politische Macht, um das deutsche Kino um zwanzig oder dreißig Jahre zurückwerfen.“ Dennoch bewahrt sie sich etwas Hoffnung: „Wenn es die politische Situation jedoch erlaubt und wir weitermachen können – bzw. müssen wir ansonsten andere Wege als die der staatlichen Förderung finden –, so glaube ich, dass die Zukunft des Kinos immer stärker von Filmen geprägt sein wird, die von historisch benachteiligten Gruppen gemacht wurden oder von ihnen handeln. Diese Menschen standen viel zu lange Zeit im Schatten. Ich stelle mir vor, dass das *andere* Kino zum Vorreiter einer subversiven Erzählkunst wird, die laut und stark, unerbittlich und entschieden gegen Rassismus, weiße Vorherrschaft, das Erbe des Kolonialismus, Sexismus, Heteronormativität, Ableismus und Queer- und Transfeindlichkeit auftritt. Es könnte ein Kino der Möglichkeiten sein, das, wie ich hoffe, in nicht allzu ferner Zukunft das Kino der Angst, das die Menschen derzeit spaltet, ersetzen wird.“
REPRÄSENTATION VOR UND HINTER DER LEINWAND
Das Lovers Film Festival Turin fördert seit Jahren ein Kino, das verbindet, und blickt dabei über die eigene Community hinaus. „Nach und nach hat sich das Festival dem Publikum in alle Richtungen geöffnet, es richtet sich also nicht nur an die LGBTQIA+ Community, sondern an Jede und Jeden“, fasst Maurizio Gelatti, Berater der Direktion für die Kommunikation des Lovers Film Festivals, den Wandel des Filmevents zusammen. Das Festival, derzeit unter der Leitung von Vladimir Luxuria, ist mit mittlerweile 38 Ausgaben das älteste Festival seiner Art in Europa und das drittälteste weltweit. „So klischeehaft das klingen mag, es ist sehr oft so, dass Kultur und Gesellschaft in ihrer Entwicklung weiter fortgeschritten sind als die Politik. Das eigentliche Ziel von Lovers oder Prides ist, dass sie in Zukunft nicht mehr als Vehikel gebraucht werden. Mit den Jahren ist das Interesse für unser Thema stetig gestiegen, gerade weil es sich auf allen Ebenen durchgesetzt hat – Politik, Gesellschaft und Medien –und mehr Aufmerksamkeit erhielt. Die Stereotype von einst kommen in den Filmen, die auf unserem Festival gezeigt werden, kaum noch vor und verschwinden langsam ganz. Es besteht ein echtes Interesse daran, ohne Vorurteil und klassische Bilder zu erzählen.“
„Ich möchte Menschen, die von unserer Gesellschaft aus unerfindlichen Gründen als anders dargestellt werden, in ihrer Menschlichkeit zeigen.“
Auch Martine De Biasi, Regisseurin und Podcasterin aus Südtirol richtet sich mit ihren Geschichten an ein breites Publikum. „Ich bin queer, antirassistisch, feministisch, humanistisch, für mich sind wir alle gleich. Das schlägt sich in meiner Arbeit nieder, in den Personen, mit denen ich spreche und in den Fragen, die ich stelle.“ In ihrem Podcast Film in the Alps gibt De Biasi einen Einblick hinter die Kulissen und in die Köpfe verschiedener Filmschaffender. Derzeit arbeitet die Regisseurin zusammen mit Katharina Burger an einem Projekt über Regenbogenfamilien, ihr Engagement setzt sich auch hinter der Kamera fort. So auch im Dokumentarfilm Becoming Me, der die Geschichte von Marian, einem Transmann, erzählt.
„Ich möchte Menschen, die von unserer Gesellschaft aus unerfindlichen Gründen als anders dargestellt werden, in ihrer Menschlichkeit zeigen. Das wirkt, und ganz besonders wirkt es in einer Gesellschaft, die noch sehr provinziell ist, wie hier in Südtirol. Als Regisseurin versuche ich das Grundverständnis und die negativen Gefühle jener Personen zu verändern, die andere diskriminieren.“ Genau das tut sie auch in ihrer Rolle im Vorstand der Film Association of South Tyrol (FAS), die sich als Berufsverband das Ziel gesetzt hat, das Autorenkino in Südtirol zu fördern, die Produktions- und Arbeitsbedingungen der Filmschaffenden zu verbessern und die regionale Filmlandschaft zu stärken. „Wir setzen uns für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen und von allen Menschen in unserer Branche ein.“
ALLEN STIMMEN GEHÖR VERSCHAFFEN
Dieses Ziel verfolgt Alexia Muiños Ruiz, Programmleiterin des European Women’s Audiovisual Network, einer paneuropäischen Organisation, die sich für die Geschlechtergerechtigkeit im europäischen Filmsektor einsetzt und in der Filmwirtschaft tätige Frauen in einer globalen Gemeinschaft vernetzt. „Die Welt hat sich verändert, daher können wir heute nicht mehr nur von Frauen allgemein sprechen, sondern von allen Minderheiten. Und das tun wir mit konkreten Projekten und einer klaren Strategie. Wir pflegen Partnerschaften mit vielen verschiedenen Verbänden und Institutionen, die den audiovisuellen Sektor in Europa gleichberechtigt und inklusiv gestalten wollen. Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Filme auch unsere Kultur sind, unser Erbe für nachfolgende Generationen. Daher müssen darin alle Stimmen vertreten sein, alle Menschen, in aller Vielfalt, damit auch sie dieses Erbe mitformen können.“
Dabei heißt es dranbleiben. „Geschlechtergerechtigkeit ist heute nicht mehr das große Thema, das es mal war“, unterstreicht Muiños Ruiz. „Aktuell sprechen wir viel über Green Shooting, Nachhaltigkeit und künstliche Intelligenz. Aber in Sachen Gender Equality besteht weiter Gesprächsbedarf. Auch wenn es in vielen Ländern mittlerweile mehr Filmemacherinnen gibt, hat immer noch dieses 1 % der Filmbranche die gesamte Macht. Und das sind Männer. Es wird keine Trendumkehr geben, wenn die Politik nicht mit konkreten Maßnahmen dagegenhält. Keine Errungenschaft ist für die Ewigkeit, wie Simone de Beauvoir sagte. Wir müssen ein Leben lang für unsere Rechte kämpfen.“
„Wir müssen im Film doch nicht konservativer sein als die echte Welt. Film sollte die Welt so zeigen, wie wir sie uns wünschen. Er sollte das Ergebnis unserer Kreativität sein.“
DIVERSITÄT ORGANISCH WACHSEN LASSEN
Mit einem klaren Ziel vor Augen gründeten Weina Zhao und Anouk Shad gemeinsam mit Malina Nnendi Nwabuonwor Gewächshaus in Wien, ein Netzwerk von und für BIPOC in der deutschsprachigen Filmbranche: die Förderung von Diversität vor und hinter der Kamera mithilfe neuer Communities und Netzwerke, durch Empowerment, Bildung, Dialog und Beratung. Damit die Geschichten, die sie erzählen wollen, irgendwann im Mainstream ankommen. „Wir müssen im Film doch nicht konservativer sein als die echte Welt. Film sollte die Welt so zeigen, wie wir sie uns wünschen. Er sollte das Ergebnis unserer Kreativität sein“, betonen Zhao und Shad.
Dass die Diversität noch nicht von Anfang an mitgedacht wird, ist eines der Hauptprobleme. „Am Ende einer Produktion noch eine Prise Diversität hinzufügen, funktioniert nicht. Oft treten Filmproduktionen an uns heran, deren Projekt bereits weit fortgeschritten ist. Das ist einfach zu spät. Trotzdem versuchen es viele auf diese Weise: Sie arbeiten wie immer und wollen am Ende den Segen der Diversity Consultants. So geht es nicht“, betonen die beiden Gründerinnen. „Diversität muss von Beginn an Teil der Produktion sein, vom Drehbuch über die Crew und die Produktionsfirma bis hin zu Vertriebsstrategie und Zielpublikum. Diversität muss organisch mitwachsen.“
„Wenn du von klein an mit einer bestimmten Mentalität aufwächst und die Gesellschaft, in der wir leben, gewisse Dinge ständig wiederholt, werden Klischees und Vorurteile immer weiterbestehen.“
Die italienische Serie Prisma macht genau das. Die auf Prime Video ausgestrahlte Serie aus der Feder von Alice Urciuolo und Ludovico Bessegato über das Leben einer Gruppe von Jugendlichen aus Latina über aktuelle wie zeitlose Themen, von Geschlechteridentität bis Sexualität. Eine der Hauptfiguren ist Carola, die eine Beinprothese trägt – ebenso wie die Darstellerin Chiara Bordi selbst im echten Leben. Dabei ist die Prothese ein Element, das mit Selbstverständlichkeit in die Geschichte eingeflochten wird, ohne besondere Gewichtung zu erhalten und vor allem ohne sie als Person zu definieren. Die Prothese ist nur eine von vielen Eigenschaften ist. „Jede Veränderung ist ein langer und langsamer Prozess. Es ist schwierig, das, was wir unser Leben lang gehört haben, abzubauen. Wenn du von klein an mit einer bestimmten Mentalität aufwächst und die Gesellschaft, in der wir leben, gewisse Dinge ständig wiederholt, werden Klischees und Vorurteile immer weiterbestehen. Dann die Perspektive zu wechseln, ist nicht einfach. Oder auch nur zu erkennen, dass etwas, das so weit weg von der eigenen Realität ist – bzw. von der eigenen Realität ferngehalten wurde – in Wirklichkeit Gemeinsamkeiten mit dir haben könnte, zum Beispiel in einem bestimmten Job zu arbeiten, eine bestimmte Welt betreten zu können“, sagte die Schauspielerin in einem Interview mit THR Roma*. „Natürlich reicht eine Fernsehserie oder eine einzelne Person nicht aus, um die Perspektive der anderen zu ändern. Dafür sind auch Maßnahmen von außen nötig, die der Gesellschaft dabei helfen. Die Menschen müssen das Thema bewusster wahrnehmen, es braucht eine grundlegende Sensibilisierung, in der Schule etwa, so banal das auch klingen mag. Der Weg ist lang, ich wollte es wäre anders. Aber so ist es nun mal. Deshalb ist es für mich das einzig Richtige, weiterzuarbeiten und meinen Beitrag zu leisten, damit sich etwas ändert.“
Es ist also ein individuelles und kollektives Vorhaben: Jedes Zahnrädchen in der Maschinerie der Filmbranche (und der Gesellschaft) bestimmt, wie die Zukunft in Bezug auf Diversität und Gendergerechtigkeit aussehen wird. Der Prozess ist kein leichter, die Hindernisse sind zahlreich. Doch ein Wandel ist möglich. Das beweist die unermüdliche Arbeit derer, die sich täglich dafür einsetzen, den derzeitigen Status Quo zu verändern. Geschichte für Geschichte.
* TAKE Magazine dankt THR Roma für die Erlaubnis in diesem Dossier ein Zitat aus dem Artikel La sfida di Chiara Bordi: „La protesi? Solo una delle mie caratteristiche. E sogno un ruolo che non abbia disabilità“ (18.01.2024) (Chiara Bordi: “Meine Prothese? Nur eine meiner Eigenschaften. Ich träume von einer Rolle ohne Behinderung“) wiedergeben zu dürfen.