Der schmale Grat zwischen Gut und Böse

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Giorgio Diritti erzählt in seinem neuesten Film Lubo die Geschichte der „Kinder der Landstrasse“. Während der Dreharbeiten im November auf der Fane Alm traf TAKE Regisseur und Crew zum Gespräch.

Sein letztes Projekt beendete Giorgio Diritti 2020: Sein Film Volevo Nascondermi (Hidden Away) über das Leben des Künstlers Antonio Ligabue – mit einem herausragenden Elio Germano in der Hauptrolle – wurde von Kritikern gelobt und sowohl für den Goldenen Bär auf der Berlinale als auch für einen Golden Globe in der Kategorie „Bester Fremdsprachiger Film“ nominiert. Fast zweieinhalb Jahre später arbeitet Diritti an Lubo, der Film kommt Mitte 2023 in die Kinos. Der aus der Emilia-Romagna stammende Regisseur hat bisher ganz nach dem Motto Qualität vor Quantität nur ausgewählte Projekte realisiert, die alles andere als banal sind – und gerade deshalb vielfach ausgezeichnet wurden.

Auch dieses neueste Projekt ist ein anspruchsvolles. Die dreiwöchigen Dreharbeiten in Südtirol fanden auf der Fane Alm im Valser Tal statt. Im Film wird das Almendorf zur Schweizer Ortschaft, in der der Protagonist seinen Militärdienst leistet. Lubo wird von Indiana Production, Aranciafilm mit Rai Cinema, Hugofilm Features und Proxima Milano koproduziert, in Zusammenarbeit mit RSI der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG/SSR und der Unterstützung der Direzione Generale Cinema e Audiovisivo MiC, des Schweizer Bundesamts für Kultur, der Zürcher Filmstiftung, IDM Film Commission Südtirol, Film Commission Torino Piemonte und Trentino Film Commission.

Giorgio Diritti erzählt, wie die Idee zum Film entstand: „Nachdem ich Hidden Away fertiggestellt hatte, habe ich dieses Projekt erneut in Angriff genommen. Der Film basiert auf dem Roman Il Seminatore (italienisch für „Der Säer“) von Mario Cavatore – und die Geschichte beschäftigt mich schon seit ich das Buch vor Jahren zum ersten Mal gelesen habe. Ich fand es sehr berührend. Die Geschichte von Lubo ist so zwar nicht passiert ist, aber es geht um wahre Ereignisse in der Schweiz der 1930er- bis 1970er-Jahre.“

„Die Geschichte beschäftigt mich schon seit ich das Buch vor Jahren zum ersten Mal gelesen habe. Ich fand es sehr berührend.“

Giorgio Diritti
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Die Jenischen und die Kinder der Landstrasse

Lubo spielt in den 1930er-Jahren, als in Deutschland Kriegsstimmung herrscht und die Schweizer Regierung alle männlichen Bürger, auch Fahrende, rekrutiert. Zu ihnen gehört auch Lubo Moser, der in Dirittis Verfilmung vom deutschen Schauspieler Franz Rogowski gespielt wird (der 2021 in Freaks Out zum ersten Mal mit einem italienischen Regisseur, Gabriele Mainetti, zusammenarbeitete). Zum Hauptcast zählen außerdem Christophe Sermet sowie Valentina Bellè (Volevo Fare la Rockstar).

„Lubo ist Jenischer“, erklärt Diritti. „Im Unterschied zu anderen Nomadenvölkern, wie Roma und Sinti, die indischer Abstammung sind, kommen die Jenischen ursprünglich aus dem europäischen, aus dem deutschsprachigen Raum. Lubo hat eine Frau und drei Kinder. Er ist Straßenkünstler, zieht mit seiner Familie umher und ist ein freier Mann.“ Doch dann verändert ein Projekt des „Hilfswerks Kinder der Landstrasse“ ihr Leben grundlegend: Das Hilfswerk nahm in der Schweiz mit Unterstützung der Stiftung Pro Juventute zwischen 1926 und 1972 dem fahrenden Volk, vor allem den Jenischen Familien ihre Kinder Weg.

„Ihr Ziel war es, die Landstreicher, Bettler und Nomaden umzuerziehen“, erzählt Diritti. „Dazu wurden die Kinder und Jugendlichen den Familien entrissen und in Heime gesteckt. Oder sie wurden von den Bauern als unbezahlte Arbeitskräfte ausgenutzt. Obwohl ein Großteil der Bevölkerung bis in die 1970er-Jahre nichts von diesem Phänomen wusste, waren in der Schweiz sehr viele Familien davon betroffen, vor allem Jenische. Diese Brutalität hat mich sehr beschäftigt, sie passt nicht zu dem positiven Bild, das ich von der Schweiz habe – als demokratisches, liberales, effizientes Land. Aber auch dort verbreitete sich in den 1920er-Jahren die Theorie der Eugenik, die zur Klassifizierung der Rassen und der Bevölkerung führte. Nicht alle Menschen waren gleichgestellt. Diese Theorien haben viele Regierungen beeinflusst und waren die Grundlage der Verbrechen des Nationalsozialismus.“

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Im Winter 1939 muss Lubo Militärdienst im Schweizer Heer leisten, um die Grenzen zu verteidigen. Der junge Mann legt die Uniform nur widerwillig an und hofft, dass das Schlimmste bald vorüber sein wird. In der Zwischenzeit nimmt das „Hilfswerk Kinder der Landstrasse“ seiner Frau die drei Kinder weg. Als Lubo dies erfährt, macht er sich auf die Suche nach ihnen. Diese Suche dauert sein ganzes Leben lang. Für ihn beginnt so ein neuer Lebensabschnitt mit unerwarteten Wendungen, der den schmalen Grat zwischen Gut und Böse in Frage stellt – vor allem wenn man wie Lubo Opfer unmenschlicher Ungerechtigkeit wird.

„Die Landschaft in Südtirol und die architektonische Ähnlichkeit eignen sich ideal, um den Charakter der Schweiz einzufangen.“

Giorgio Diritti

Warum für die Produktion Südtirol als Drehort gewählt wurde? „Es klingt vielleicht banal, aber mir gefällt es hier“, so Diritti. „Ich war selbst als Tourist in Südtirol unterwegs und habe hier auch einige Szenen für den Film über Antonio Ligabue gedreht. Außerdem eignen sich die Landschaft und die architektonische Ähnlichkeit ideal, um den Charakter der Schweiz einzufangen.“ Und hat die Region Ihre Erwartungen erfüllt? „Auf jeden Fall. Wir konnten in Ruhe arbeiten, die Dienstleistungen sind einwandfrei und wir konnten auf ausgezeichnete lokale Filmschaffende zurückgreifen, die unsere Crew perfekt ergänzten“, erzählt Diritti.

Fachkräfte aus der Region

Zu den lokalen Crew-Mitgliedern gehören Kostümbildnerin Katia Schweiggl und Szenenbild-Assistent Eros Rodighiero. Der 38-jährige Rodighiero stammt aus Bozen. Er studierte am Dams in Bologna und begann seine Karriere als Bühnentechniker für das Musical Notre Dame de Paris. Er war für das Teatro Stabile in Bozen und die Arena von Verona tätig, bevor er zur Filmwelt überging, wo er bereits mit berühmten Regisseuren wie Soavi, Tornatore, Vanzina und Faenza zusammenarbeitete. „Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort“, meint Rodighiero lächelnd. In der Szenenbild-Assistenz wirkte er an zwei weiteren erfolgreichen Produktionen mit: Black Out für die Rai und Il mio nome è vendetta mit Alessandro Gassmann für Netflix. Aber zurück zu Lubo.

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„Hier bin ich als Assistent von Giancarlo Basili tätig, der das Szenenbild für viele sehr bekannte Filme gestaltet hat. Gerade arbeitet er an der neuen Staffel der Serie Meine geniale Freundin (L’amica geniale). Mit einem brillanten Team aus Requisiteuren und Malern entwerfen und gestalten wir alles, was man für das Szenenbild braucht, von gewöhnlichen Möbeln bis hin zu neuen Konstruktionen. Wir haben zum Beispiel einige Kioskläden aus den 1940ern nachgebaut. Die größte Herausforderung waren aber die Wagen, in denen das fahrende Volk umherzog: Wir hatten die Wagenfläche, aber alles andere fehlte. Hier haben unsere Techniker wirklich ganze Arbeit geleistet. Nach eingehender Recherche konnten sie sie perfekt nachbauen, selbst innen“, erzählt Rodighiero.

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Die Schneiderin

Eine entscheidende Rolle für die Geschichte spielen die historischen Kostüme. Katja Schweiggl, die ihre Ausbildung an der Berufsfachschule für Schneiderei in Meran abgeschlossen hat, war bereits bei zahlreichen Produktionen als Schneiderin, Kostümbildnerin und Gardobiere tätig. 2018 wurde sie für den Film Capri-Revolution von Mario Martone mit dem Preis La Pellicola d’oro als beste Schneiderin ausgezeichnet. Mit Giorgio Diritti hat sie bereits für Hidden Away zusammengearbeitet.

Bei diesem Projekt sah sich die Schneiderei mit einer umfangreichen Aufgabe konfrontiert: „Für Lubo wurden sehr viele Uniformen für die Soldaten benötigt und Kleidung für die verschiedenen Gesellschaftsklassen, unter anderem die Jenischen. Die Arbeit mit Kleidung und Accessoires aus verschiedenen Epochen fand ich besonders interessant. Die Storyline zieht sich ja über Jahrzehnte“, erzählt Katja Schweiggl. „Wir haben Vorhandenes angepasst, Neues geschaffen. Ohne etwas von der Handlung vorweg nehmen zu wollen: Ein Bärenkostüm war auch dabei.“ Die historischen Kostüme kamen aus verschiedenen Kostümfundus in Spanien, der Schweiz, Tschechien, Österreich und Italien. „Am Ende des Projektes wird jedes einzelne Kleidungsstück und Accessoire wieder in den Originalzustand zurückgenäht, gereinigt und den verschiedenen Fundus zugeordnet.“ Die größte Herausforderung? „Die Kälte beim Dreh auf der Fane Alm. Bei einem historischen Film wie diesem ist eben auch bei den Kostümen alles so wie damals – da ist kaum Platz für zusätzliche Schichten“, so Schweiggl.

Die Dreharbeiten auf der Fane Alm neigen sich dem Ende zu. Regisseur Diritti bleibt vom Projekt Lubo viel Positives: „Es war eine beeindruckende Reise in die Vergangenheit. Wir sind vielen Menschen begegnet und haben verschiedene Orte in der Schweiz und Italien kennengelernt, indem wir die Geschichte eines Mannes erzählten, der auf das Unrecht reagiert, das ihm widerfahren ist, und sich ein neues Leben aufbauen will. Der Film ist das Ergebnis einer gelungenen Teamarbeit, die wir der Leidenschaft und Motivation von Produktionsgesellschaften, Cast und Crew zu verdanken haben.“

Text Paolo Florio
Foto Alan Bianchi
Veröffentlicht am 24.03.2023

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