Rückkehr zum Wesentlichen

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In Lovely Boy zeichnet Francesco Lettieri die innere Reise eines verlorenen jungen Mannes nach. Ein Setbesuch in Südtirol.

Plötzlich herrscht Stille. Der Trubel der Stadt verebbt und jedes Geräusch scheint erloschen. Nach nur wenigen Schritten ist der einzige Laut, der noch bleibt, das Knarren der schwankenden Bäume im Wind. Sonst nichts, oder fast nichts. Die Stimmung in Gufidaun, einem Dorf oberhalb von Klausen, etwas mehr als 30 Kilometer entfernt von Bozen, ist unwirklich. Man fühlt sich wie in einer anderen Welt, in der es die Hektik der digitalen Gesellschaft nicht mehr gibt, oder niemals gegeben hat. Letzter Stützpunkt der gewohnten Zivilisation ist das Hotel Gnollhof, wo es einen Parkplatz, Menschen und alles andere gibt, was an urbanes Leben erinnert. Danach nur noch Bäume und Stille. Natur, die sich selber reicht. Meter für Meter lassen wir alles hinter uns, bis wir auf die Bühne des Waldes treten und von ihm verschlungen werden.

Nach wenigen Minuten erreichen wir einen alten, verlassenen Berghof, wo wir auf die emsige kleine Truppe stoßen, für die wir diesen Weg überhaupt erst auf uns genommen haben: die Crew von Lovely Boy, dem neuesten Film des Regisseurs Francesco Lettieri, produziert von Indigo Film in Koproduktion mit Vision Distribution und Sky, mit der Unterstützung der Südtiroler Filmförderung (IDM).

„Dass wir hier drehen, ist keineswegs ein Zufall“, erfahren wir von Lettieri, „die geografische Verortung ist für die Erzählung des Films sogar von größter Bedeutung.“ Der Regisseur hält inne und sieht sich um. „Schon eigenartig, dass ich früher, als Kind, nur zum Skifahren nach Südtirol kam und keine Ahnung hatte, was es abseits der Pisten noch alles gibt. Ich muss sagen, das war eine schöne Überraschung.“ So sitzen wir also, weit weg von allem Chaos der Welt, wie in eine andere Zeit versetzt, auf einer alten Holzbank vor dem Haus mit der verblichenen Aufschrift Stammer.

LEERE UND LEICHTIGKEIT

Der Stammerhof war ein Gasthof, der vor etwa fünfzehn Jahren einfach aufgehört hat, ein Gasthof zu sein. Nachdem der letzte Tourist gegangen war, durchlebte das Haus mehrere harte Winter – entsprechend begrüßt es uns heute mit ächzenden Treppen und einem beißenden Kellergeruch, der uns nicht einmal loslässt, als wir längst wieder fort sind.

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Lovely Boy besteht aus zwei Teilen“, erklärt Lettieri weiter, „die beide gleich wichtig sind. Da ist der Protagonist, Nic, der sich in Rom im Chaos verliert, zwischen Trap-Konzerten, Clubnächten und Rauschmitteln, bevor er hier oben am Berg landet, in einer Reha-Gemeinschaft für Drogenabhängige.” Nic, der sich mit Künstlernamen Lovely Boy nennt, ist Musiker, ein Star der römischen Trap-Szene, der nach den ersten Erfolgen in eine Spirale der Selbstzerstörung gerät. Nic wird gespielt von Andrea Carpenzano, der den Set auf der Suche nach der richtigen Position durchstreift und mit Gesichtstattoos und rastlosem Blick wie ein Fremdkörper wirkt auf dem alten Stammerhof.

Noch befremdlicher muss das Filmteam auf die Frau wirken, die auf dem Bauernhof nebenan lebt. Sie beobachtet das Geschehen mit einer Distanziertheit, die Naivität vorgaukelt, auf den zweiten Blick aber wohl Weisheit ist. „Dieser Ort hier oben zwingt dich, in dich hineinzusehen, dich mit dir selbst auseinanderzusetzen“, philosophiert Regisseur Lettieri. 

„Im römischen Teil des Films sehen wir die Leere in Nics Leben, hier hingegen besinnt er sich auf das Wesentliche, die Beziehungen zu anderen Menschen. Als Regisseur habe ich dieselbe Leichtigkeit erlebt, als ich hier heraufkam: Nach dem Dreh der vielen lauten, energieraubenden Szenen in der Stadt fand ich mich an diesem leisen Ort wieder, an dem scheinbar nichts passiert, wo aber in Wahrheit die Dinge zu finden sind, die wirklich zählen.“

Außer dem Stammerhof wurde für Lovely Boy auch am Bahnhof von Meran sowie an zwei anderen Locations in der Nähe von Klausen gedreht. Es ist der erste Südtirol-Dreh für Indigo Film: „Endlich haben wir es geschafft!“, freut sich Produzent Nicola Giuliano, Oscarpreisträger für La grande bellezza von Paolo Sorrentino. „Wir versuchen schon seit vielen Jahren, hier in der Region einen Film zu realisieren und jetzt bin ich wirklich glücklich, dass wir es geschafft haben – vor allem mit einem Projekt, das uns sehr am Herzen liegt“, so der Produzent. „Kaum hatte Francesco Lettieri die Landschaft hier gesehen, hat er sich in die Gegend verliebt. Natürlich sind für uns die Produktionsbedingungen immer sehr wichtig, aber die künstlerischen Bedürfnisse haben mehr Gewicht. Mit Francesco waren wir sofort auf einer Wellenlänge. Er hat die Fähigkeit, starke, reale Bilder mit einem dramaturgischen Ansatz zu verbinden, der auch klassischen Erzählstrukturen gerecht wird.“

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SZENEMUSIK UND ABENDSTILLE

Während Giuliano noch zu Ende spricht, frischt immer wieder der Wind auf und die weißen Wolken über unseren Köpfen heben sich vom strahlenden Blau des Himmels ab wie in einem impressionistischen Gemälde, das sich im Sekundentakt verändert. „Eigentlich bin ich ja ein Kind des Meeres“, gesteht er lachend, „ich komme aus Neapel, war aber immer schon verrückt nach den Bergen. Ich glaube, es hat mich erwischt, als ich zum ersten Mal Fred Zinnemans Am Rande des Abgrunds mit Sean Connery sah. In diesem Augenblick erkannte ich, dass die Berge eine Welt für sich sind und vielleicht der einzige Ort überhaupt, an dem man sich durch und durch mit sich selbst beschäftigen kann, ohne Kompromisse.“

Zur Mittagszeit trifft sich die kleine Crew draußen und verteilt sich wahllos auf Holzbänken und improvisierten Sitzplätzen. In einer Zeit, in der auf Biegen und Brechen alles geteilt werden muss und der Mensch im Social-Media-Wettlauf jedes Ereignis im selben Atemzug postet, in dem es passiert, weckt dieses gemeinsame Mittagessen eine leise Erinnerung an ein lang vergangenes, beinahe kindliches Glück, als man nicht mehr brauchte als die Gesellschaft der anderen. „Eigentlich sollte Lovely Boy an einem ganz anderen Ort gedreht werden“, erinnert sich Carlotta Calori von Indigo, „aber nach den Motivbesichtigungen hier war Francesco von dieser Location und ihrer besonderen Stimmung so begeistert, dass er beschloss, diesen Teil des Films in Klausen spielen zu lassen.“

Nicht weit vom Set, wo die Crew gerade wieder ihre Arbeit aufnimmt, treffen wir auf Elisa Nicoli, die zweite Regieassistentin, die diese Gegend als gebürtige Südtirolerin gut kennt. Nicoli ist nach Aufenthalten in Padua und Rom wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. „Kino war immer schon meine große Leidenschaft“, erzählt sie. „Ich habe Filmschnitt studiert und habe nach dem Abschluss versucht, hier Fuß zu fassen, weil ich wusste, dass in Südtirol inzwischen eine lebendige Filmszene entstanden war, mit einigen internationalen Sets.“

Ihre ersten Erfahrungen machte sie am Set von Max e Hélène von Giacomo Battiato, im Kamerateam, aber interessanter fand sie immer die Regie. „Nachdem ich mich in verschiedenen Projekten um die Koordination der Komparsen gekümmert habe, bekomme ich nun bei Lovely Boy zum ersten Mal die Chance, als Regieassistentin zu arbeiten, und es ist eine wahnsinnig prägende Erfahrung“, so Nicoli. „Wie ich Carpenzano finde? Ein toller Schauspieler, und richtig nett. Beim Dreh verliert er nie die Nerven, auch wenn’s mal nicht so gut läuft.“

Bevor es mit den Dreharbeiten weitergeht, treffen wir noch einmal Francesco Lettieri, um mit ihm über einen weiteren Aspekt des Films zu sprechen, der hier eine tragende Rolle spielt: die Musik. „Carpenzano spielt im Film einen Trapper – wir haben ihm also ein Musikrepertoire und ein Äußeres verpasst, das ihn glaubwürdig macht“, so der Regisseur. „Andrea ist mit der römischen Musikszene ohnehin bestens vertraut und sogar mit einigen Trap-Musikern befreundet. Er hat sich vor Beginn der Dreharbeiten sehr genau mit dem Thema auseinandergesetzt.“ Zum Beispiel mit der Dark Polo Gang, einer der erfolgreichsten römischen Trap-Bands. Die aus dem US-Hip-Hop hervorgegangene Trap-Musik hat in Italien seit einigen Jahren zahlreiche vor allem junge Fans; Stars der auf Italienisch rappenden und nicht unumstrittenen Szene sind Künstler wie Sfera Ebbasta und Ghali.

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„Aber verstehen Sie mich nicht falsch“, präzisiert Lettieri, „Lovely Boy ist kein Film über Trap, sondern in erster Linie die Geschichte eines jungen Mannes. Für die Filmmusik haben wir mit dem Kultproduzenten Paco Martinelli zusammengearbeitet. Er hat für uns einige unveröffentlichte Stücke geschrieben, die sich vom italienischen Trap unterscheiden: Wir suchten nach einem Sound, den man eben noch nicht kennt, wir wollten ein neues Genre, das Elemente von Emo, Pop, Rap und Trap vereint.“

Kaum hat er seinen Satz beendet, verschwindet Lettieri wieder im Stammerhof, wo er eine Schlüsselszene des Films zu Ende drehen will. Er hat uns im Interview davon erzählt, aber wir verraten natürlich nichts. Der Tag neigt sich mittlerweile dem Ende zu, der Abend senkt sich langsam über den Set, wo die letzten Einstellungen gedreht werden. Nachdem wir uns von der Crew verabschiedet haben, fahren wir wieder Meter für Meter den Berg hinab und fallen in die laute Alltagswelt zurück, mit Motorenlärm, Menschen und Kurznachrichten. Wir versuchen noch, das Gefühl dieses Tages so lange wie möglich festzuhalten. Und in diesem Augenblick gesellen sich zu der verwaschenen Aufschrift Stammer, die vor dem geistigen Auge immer noch erkennbar ist, die Worte des teuren Peter Handke: „Allmählich wird die äußere Abendstille zur inneren Körperwärme.“

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Text Andrea Morandi
Foto Roberto Covi
Veröffentlicht am 20.01.2022

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