Das allerletzte Mal

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Anna muss Abschied nehmen. Im Kurzfilm Der Maulbeerbaum des Regie-Duos Cornelia Schöpf (Drehbuch) und Federico Campana verschwimmen Realität und Erinnerung. Ein Setbesuch in Andrian.

„Wer nimmt die Blumen?“ Kurzes Schweigen. „Nimm du sie, ich mag sie nicht.“ Im gedämpften Licht greift Rosi langsam nach dem Blumentopf am Fensterbrett der alten Bauernstube. Ihre Schwester Hilda steht daneben, rührt sich nicht. Umso bewegter geht es um die beiden Frauen herum zu. Auf der Ofenbank in der Ecke sitzen das Regie-Duo Cornelia Schöpf und Federico Campana. Die beiden beraten sich kurz, wirken sehr vertraut. Dann springt Schöpf auf, schlängelt sich zwischen der Filmcrew durch und gibt den beiden Schauspielerinnen Anweisungen – die Regie ist mit der Aufnahme noch nicht ganz zufrieden. Drei Mal werden Agnes Öttl und Agnes Maierhofer als Rosi und Hilda die Szene noch spielen. Dann passt sie. „Ok, grazie!“, bedankt sich Producer Matthias Keitsch (Albolina Film) beim Team. Am Set von Der Maulbeerbaum geht es ganz selbstverständlich mehrsprachig zu. Alle verstehen neben Englisch auch Deutsch und Italienisch – denn alle haben einen Bezug zu Südtirol. Wer nicht von hier stammt, hat eine Ausbildung an der Filmschule ZeLIG in Bozen absolviert. Dort haben sich auch Schöpf, die aus Lana stammt, und Campana, der aus der Emilia Romagna kommt, kennengelernt. Nach mehreren Kooperationen bei Dokumentarfilmen arbeiten sie jetzt gemeinsam an ihrem ersten Spielfilm.

In der 15-minütigen von Albolina Film realisierten Produktion Der Maulbeerbaum kehrt Anna (gespielt von Marlies Untersteiner) mit Mutter Rosi und Tante Hilda auf den Bauernhof ihrer Oma zurück. Der Grund ist kein freudiger – bietet aber Anlass, Momente, die waren, intensiv nachzuerleben. 60 Jahre lang hat Annas Großmutter auf dem Hof gelebt. Anna selbst hat einen Teil ihrer Kindheit dort verbracht. Nun hat ihr Onkel den Hof ohne ihr Wissen verkauft, um Schulden begleichen zu können. Anna lebt inzwischen in der Stadt und ist mit Mutter und Tante vor Ort, um die verbliebenen Gegenstände mitzunehmen. Dabei taucht sie in ihre Erinnerung ein, an ihren Lieblingsraum aus Kindertagen – und an ihren Lieblingsbaum, der immer noch im Garten steht. Es ist ein Maulbeerbaum, dessen Beeren die kleine Anna so gerne so lange in der Hand zerdrückte, bis der dunkelrote Saft zwischen ihren Fingern hervorquoll. „Das darfst du nicht tun!“, musste sich die Enkelin von der Oma tadeln lassen.

 

Kulisse zwischen Realität und Animation

Gedreht wird heute in Andrian, etwa eine Viertelstunde Fahrzeit von Bozen entfernt. Ein altes leerstehendes Bauernhaus am Dorfrand dient als perfekte Kulisse. Der Burgerhof mit angrenzenden Weinreben und Obstbäumen gehört der Familie von Elisa Zanchetta, die Maskenbildnerin am Set ist. Als Make-up Artist war Zanchetta bereits bei Kino- und TV-Spielfilmen wie Non mi uccidere und Ein Sommer in Südtirol im Einsatz. Sie hat den Hof als Drehort vermittelt. „Es ist ein großes Privileg, hier drehen zu können“, freut sich Produzentin Debora Nischler (Albolina Film), „die Ressourcen bei einem Kurzfilm sind ja immer begrenzt.“ 

„Ich habe ein Aquarell gezeichnet, das über den Kirschbaum gelegt wird. Es entsteht also ein Baum, der halb animiert, halb reell ist, und so auch der Mischung aus Realität und Erinnerung im Film gerecht wird.“

Federico Campana, Regisseur

Dank der unkomplizierten Vermittlung waren viele Vorbereitungsarbeiten am Hof schon geraume Zeit vor Drehbeginn möglich – so musste etwa die Stromversorgung erst installiert werden. Unterstützung bei der Umsetzung von Der Maulbeerbaum kommt von IDM Film Commission Südtirol, die das Projekt in der Kategorie Kurzfilm fördert, und dem Amt für Film und Medien der Autonomen Provinz Bozen.

Deutlich herausfordernder als die nach dem Drehort war die Suche nach dem perfekten Maulbeerbaum. Früher oft für die Seidenraupenzucht kultiviert, sind die Bäume in Südtirol inzwischen selten geworden. Im Film dient deshalb ein Kirschbaum nahe Tisens als Double. Die Verwandlung zum Maulbeerbaum vollzieht Federico Campana in der Postproduktion. „Ich habe ein Aquarell gezeichnet, das über den Kirschbaum gelegt wird. Es entsteht also ein Baum, der halb animiert, halb reell ist“, meint Campana, „und so auch der Mischung aus Realität und Erinnerung im Film gerecht wird. Denn der Maulbeerbaum kommt im Film nur in der Vergangenheit vor.“

 

Atmosphäre in Rot

Das Regie-Duo setzt stark auf haptisch-visuelle Elemente. Die rot-lila Farbe des Maulbeersaftes taucht immer wieder auf. Etwa im Wollknäuel und den Magenzuckerlen, die auf einem Regal in der Stube liegen, vor dem Anna in einer anderen Szene steht. In Gedanken versunken streckt sie ihre rechte Hand bedächtig Richtung Regal.

Für Cornelia Schöpf, die alle nur „Coco“ rufen, ist der Kurzfilm nicht reine Fiktion. Er hat einen biografischen Teil. „Am Hof meiner Oma im Ultental steht ein Maulbeerbaum, der mich seit jeher fasziniert hat“, verrät die Regisseurin und Drehbuchautorin. Warum sie sich bei Der Maulbeerbaum für das Format Kurzfilm entschieden hat, erklärt Schöpf so: „Natürlich ließe sich die Geschichte mit all ihren Nebenschauplätzen in Spielfilmlänge gießen. Mir aber geht es um diesen einen Moment des Abschiednehmens und des Mitnehmens von Dingen und Erinnerungen, die du mit einem Ort und einer Person verbindest, zu denen du eine große emotionale Bindung hast. Diesen Moment, den du ganz bewusst erlebst, weil du weißt, es ist das allerletzte Mal. Um diese Atmosphäre einzufangen, ist der Kurzfilm genau richtig.“

Take

„Mir geht es um diesen Moment, den du ganz bewusst erlebst, weil du weißt, es ist das allerletzte Mal. Um diese Atmosphäre einzufangen, ist der Kurzfilm genau richtig.“

Cornelia Schöpf, Regisseurin

Noch ein Lieblingsbaum

Gesprochen wird in Der Maulbeerbaum wenig. Und wenn, dann im Südtiroler Dialekt. „Der Cast ist ausschließlich mit Südtiroler:innen besetzt. So bleibt der Film authentisch“, sagt Produzentin Nischler. „Und für Kurzfilm-Festivals sind englische Untertitel ohnehin unabdingbar.“ Sechs Drehtage sind vorgesehen. Neben Szenen in Stube, Schlafzimmer, Küche und Eingangsbereich des Hofes wird eine Straßenszene und am Hof mit dem Kirschbaum gedreht. Im Herbst 2023 soll der Film fertig sein.

Drehpause. Im Hofgebäude wird für die nächste Szene umgebaut. Der Rest der Crew wärmt sich draußen im Garten in der Frühlingssonne auf. Die massiven Steinmauern sorgen im Inneren für deutlich kühlere Temperaturen. Elisa Zanchetta sitzt auf einer Bank und beobachtet das Treiben lächelnd. Rasch pudert sie die Protagonistinnen nach – die Sonne setzt der Maske zu. Für die Make-up Artist ist der Hof, an dem gedreht wird, ein ganz besonderer Ort „Ich habe selbst als kleines Kind hier gewohnt und war danach noch oft hier.“ Eindrücklich im Gedächtnis geblieben ist ihr vor allem eine Erinnerung – und darin spielt ebenfalls ein Baum die Hauptrolle: der alte Feigenbaum an der Eingangstreppe. „Wie oft bin ich daran emporgeklettert, am Stamm entlang hinuntergerutscht und habe mich dabei aufgeschürft!“ Der Hof hat für die Maskenbildnerin einen „großen emotionalen Wert“. Wie für Anna in Der Maulbeerbaum.

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Text Lisa-Maria Gasser
Foto Armin Huber
Veröffentlicht am 16.05.2023

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