Die Welt ist ein Dorf

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Raketen, Nichtraucher-Waggons und Zimtschnecken. Von Ende August bis Mitte September war die Crew um die Neuverfilmung des Kinderbuchklassikers Das fliegende Klassenzimmer im Vinschgau in Südtirol unterwegs. Ein Setbesuch beim letzten Drehtag in Glurns

Auf dem Parkplatz hinter dem Tauferer Tor der Altstadt von Glurns hat die Filmcrew der UFA Fiction ihre Base aufgeschlagen. In der noch heißen September-Sonne stehen Filmfahrzeuge neben Catering-Zelten und mittendrin sitzen auf Bierbänken Kinder, die gerade Karten spielen und auf den nächsten Einsatz am Set warten. Was denn hier gedreht werde, fragt ein Tourist aus Deutschland, nachdem er das Geschehen eine Zeit lang still beobachtet hat. Seine Augen leuchten, als er „Das fliegende Klassenzimmer“ hört – so ein Zufall, genau im Urlaub auf einen Klassiker aus der Kindheit zu treffen.

2022 wird Das fliegende Klassenzimmer nach der Romanvorlage von Erich Kästner von UFA Fiction in Koproduktion mit LEONINE Studios neu verfilmt. „Eine sehr universelle und zeitlose Geschichte“, sagt der ausführende Produzent Matthias Adler (Altes Land, 2019; Ich war noch niemals in New York, 2018), der sich freut, die Geschichte mit dieser vierten Fassung ins Jetzt zu transportieren. Fast 20 Jahre nach der letzten Verfilmung inszeniert Carolina Hellsgård (Alumna des IDM Script Lab RACCONTI #8 – Wanja, 2015; Sunburned, 2019) die Internatsgeschichte modern und mit zeitgemäßem Blick nach dem Drehbuch von Gerrit Hermans. In der Geschichte erhält die dreizehnjährige Martina (Leni Deschner) aus Berlin die Chance auf ein Stipendium am Johann-Sigismund-Gymnasium im idyllischen Alpenstädtchen Kirchberg. Hier ist Martina mit ihren neuen Freunden direkt mittendrin im Konflikt zwischen „Internen“, den Stadtkindern im Internat, und „Externen“, den Kindern, die vom Land kommen. Ein gemeinsames Theaterstück soll helfen, den Streit beizulegen.

„Es ist schon erstaunlich, was dieses kleine Land an Schauplätzen alles zu bieten hat.“

Matthias Adler, Ausführender Produzent

Den Cast komplettieren die Erwachsenenrollen: Internatsleiter Justus Bökh (Tom Schilling), Schuldirektorin Kreuzkamm (Hannah Herzsprung) und der geheimnisvolle Nichtraucher (Trystan Pütter).

Matthias Adler führt uns zum „Nichtraucher-Waggon“ auf eine kleine Obstwiese in der Nähe der Base direkt an der Etsch, die mithilfe von entgegenkommenden hiesigen Bauern zum Schrebergarten mit Kräuterbeet für den Film wurde. „Eine Welt für sich, eines meiner Lieblingsmotive“, schwärmt Georgina Fugger, Junior Producerin, beinahe etwas wehmütig. Das Set wird nämlich gerade abgebaut. Es steht nur noch der Eisenbahnwaggon, in dem der „Nichtraucher“ wohnt. Er ist ein Rückzugsort für die Kinder im Film und eines der Hauptmotive beim Dreh in Glurns. Als gegen Ende des Drehs noch ein Zug hermusste, wurde der Waggon kurzerhand zur Hälfte rot angemalt und später zieht mit CGI die Landschaft an den Fenstern vorbei, wenn Martina von Berlin nach Kirchberg in das Alpeninternat reist. Der Szenenbildner Thomas Franz verfolgt den Abbau mit wachsamen Augen, einige Requisiten wurden bereits Glurnserinnen und Glurnsern versprochen, die sie nach Drehschluss abholen. In den zwei Wochen ist der Filmdreh Teil des Kleinstadt-Alltags geworden.

Take

Mitten im Geschehen

Auf dem Platz vor dem Gasthof Grüner Baum im historischen Stadtzentrum wird in der Mittagssonne kurz vor der Pause noch eine der Schlüsselszenen des Tages gedreht: eine der Anfangsszenen des Films. Wie immer in diesen Tagen sind zwischen 60 und 80 Personen am Set involviert, in nahezu jedem Department sind lokale Filmschaffende vertreten – von Kostüm, über Maske bis hin zum Produktionsbüro.

Totale, der Marktplatz ist großräumig abgesperrt, der Verkehr steht still. Als Martina in Kirchberg ankommt, erklären ihr die taffe Jo (Lovena Börschmann Ziegler), Boxer Matze (Morten Völlger) und der kleine Uli (Wanja Valentin Kube) die wichtigste Regel im Schulleben: die Trennung von „Internen“ und „Externen“. Direktorin Kreuzkamm läuft in der Szene mit ihrer Tochter, der „Externen“-Anführerin Ruda (Franka Roche), quer über den Platz. Ruda würdigt die „Internen“ keines Blickes.

Der Gastbetrieb im Grünen Baum läuft trotzdem weiter, aber die Tische vor dem Gasthof sind für den Zeitraum des Drehs der Crew und dem Cast vorbehalten. Ist die Szene abgedreht, wagen sich Urlauberinnen und Urlauber vorsichtig aus dem Haus, manche mit erstauntem Blick, andere sind schon länger hier und sind es schon gewohnt, darauf zu achten, nirgends hineinzulaufen. Wieder andere kehren vom Ausflug ins Hotel zurück und grüßen bekannte Gesichter aus der Filmcrew freundlich.

Das Set ist in Kinderhand. Die jungen Darstellerinnen und Darsteller wissen genau, wann sie wohin müssen. Zwischen den Takes wird geplaudert. Acht Kinder gehören zum Haupt-Cast, die Schulklassen mit etwa 20 Kindern wurden je nach Drehort mit neuen Komparsen besetzt.

Take

Nach der Mittagspause kehrt die Crew wieder auf den Marktplatz zurück. Vor dem Grünen Baum ist Alltag eingekehrt und jeder Tisch besetzt, gedreht wird nur ein paar Meter weiter. Der Feinkostladen wird zur Bäckerei, in der Matze seine heißgeliebten Zimtschnecken bekommt. Da in der Szene nur die Fassade des Ladens gezeigt wird, läuft der Verkehr ganz normal weiter.

 

Kurze Wege und geheime Plätze

An der mittelalterlichen Stadtmauer wurde eine Stunt-Szene gedreht, jedes der drei großen Stadttore von Glurns wurde bespielt. Ein gut versteckter kleiner Durchgang mit Holztür unweit des Eisenbahnwaggon-Motivs wird noch rasch mit Efeu behangen und verwandelt sich in ein „verwunschenes Tor“ für die Rakete, die eine wichtige Rolle im Theaterstück der Kinder einnimmt.

Das Städtchen hat es der Crew merklich angetan – und auch rund um Glurns wurden mehrere Locations gefunden. An diesem letzten Drehtag zieht Adler gerne Bilanz: „Wenn ich sagen müsste, was schön war, wüsste ich nicht, wo anfangen. Wir waren sehr viel in Glurns unterwegs, in den Gassen, an den Stadtmauern, haben aber auch bei der Churburg gedreht. Man findet hier so viele Motive, die alle in der direkten Umgebung liegen – man muss sich nur leider entscheiden.“

„Klar, das Gebiet zu kennen und auf hilfsbereite Menschen zu treffen, ist wichtig – aber manchmal muss man sich auch ein bisschen auf das Glück verlassen!“

Debora Scaperrotta, Location Manager

Die Churburg wird in der Neuverfilmung zum Internat, zumindest von außen. Innenmotive wie Klassenzimmer und Internatszimmer wurden Anfang September in Berlin gedreht. Das Gymnasium ist ein vom Internat getrenntes Gebäude, wofür das Kloster Neustift als Motiv fungierte. „Die Entscheidung rührt von dem Wunsch her, Wege für die Kinder zu erzählen, sodass sie in der Geschichte den Ort erkunden können. Die Schule befindet sich unterhalb vom Berg und das Internat oberhalb“, erzählt Adler. „So eine Reiseproduktion ist für die jungen Darstellerinnen und Darsteller besonders spannend. Es ist schon erstaunlich, was dieses kleine Land an Schauplätzen alles zu bieten hat.“

Take

Genau diese Schauplätze kennt kaum eine besser als Location Manager Debora Scaperrotta, die fehlende Motive besetzte und Alternativen suchte, um das Projekt im Rahmen des Drehplans logistisch möglich zu machen. Lediglich der See, der für Schlüsselszenen gebraucht wird, befindet sich nicht im Vinschgau. „Mitte September einen See mit angenehmer Temperatur für den Dreh mit Kindern zu finden, war nicht einfach. Als die Wahl auf den Dürrensee gefallen war, gab es plötzlich noch einen historisch niedrigen Wasserstand und wir mussten warten, bis er sich normalisierte. Klar, das Gebiet zu kennen und auf hilfsbereite Menschen zu treffen, ist wichtig – aber manchmal muss man sich auch ein bisschen auf das Glück verlassen! Davon hatten wir in diesem Fall reichlich“, lacht Scaperrotta. Am darauffolgenden Tag geht es also mit der gesamten Crew ins Hochpustertal.

Text Debora Longariva
Foto Patrick Schwienbacher
Veröffentlicht am 21.10.2022

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