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Die Pandemie hat Europas Filmfestivals in ihre größte Krise gestürzt. Nun sortieren sie sich neu – und suchen das richtige Format für die Zukunft.

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

wenn diese TAKE-Ausgabe erscheint, stehen die Internationalen Filmfestspiele von Venedig kurz bevor, Cannes hat seine Filme mit etwas Verspätung (und strengen Auflagen) präsentieren können und die einmalige Sommerausgabe der Berlinale hat ebenfalls stattgefunden. Es sieht also so aus, als ginge alles langsam wieder seinen üblichen Weg. Doch das zurückliegende Jahr wird den kommenden Festivals noch lange seinen Stempel aufdrücken. Die meisten hatten die Zwangspause genutzt, um für einen Moment innezuhalten und sich zu fragen, welche denn ihre eigentlichen Aufgaben seien, wenn sie plötzlich vor der Wahl standen, ganz auszufallen oder das kuratierte Programm online anzubieten. Vor dem Hintergrund der Einschränkungen, Unterbrechungen, Ausfälle und Umwege, von denen Festivals seit über einem Jahr geprägt sind, wollen wir die Gelegenheit zur Bestandsaufnahme genauso nutzen – und in diesem Dossier über Aufgaben, Passion und Mission von Filmfestivals nachdenken.

Florian Krautkrämer
Chefredakteur TAKE #13

 

Un Certain Regard. Festivals in Zeiten der Pandemie

Die Berlinale hatte 2020 noch Glück. Normalerweise eröffnet das größte Publikumsfestival der Welt den Reigen im Februar, kurz nach Sundance und Rotterdam, gefolgt von zahlreichen kleineren und größeren Festivals sowie wenige Wochen später den Filmfestspielen in Cannes. Aber seit dem Februar 2020 ist nichts mehr normal, und so war die Berlinale für längere Zeit das letzte Ereignis seiner Art, das in bis auf den letzten Platz ausverkauften Sälen und ohne Hygieneauflagen oder Schutzmasken stattfand. Erst rückblickend wird deutlich, wie knapp es war, dass das Programm trotz der zeitlichen Verschiebung um zwei Wochen auf Ende Februar komplett durchgeführt werden konnte, während einige Länder bereits die Grenzen schlossen. Und man darf gespannt sein, wie lange es dauern wird, bis wir wieder zu jener Selbstverständlichkeit zurückkehren, die damals in den Sälen, den Schlangen der Wartenden und den Räumlichkeiten des European Film Market noch vorherrschte. Denn seitdem wurden die Festivals von ihrer größten Krise erfasst. Weder die Digitalisierung noch Abspaltungen von Sektionen, weder Skandalfilme noch unbedachte Kommentare von Regisseuren oder Absagen von Filmschaffenden erschüttern ein Festival dermaßen wie das Verbot, vor Ort stattzufinden.

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Filmfestivals sind weit mehr als nur eine Möglichkeit, um Filme vorzuführen. Je nach Größe und Ausrichtung übernehmen sie wichtige Aufgaben, die anders kaum durchzuführen wären. Die A-Festivals – Berlin, Cannes und Venedig, aber auch Sundance oder Toronto – sind vor allem auch Branchenevents. Hier präsentiert die Filmindustrie ihre neuesten Werke. Festivalpreise können entscheidend sein für die weitere Karriere von Filmschaffenden, erleichtern die Produktion neuer Filme und erhöhen die Sichtbarkeit der älteren. Auf den begleitend stattfindenden Filmmärkten werden noch weit mehr Filme gezeigt als im Hauptprogramm, hier geht es um Verkäufe und Deals nicht nur abgedrehter Produkte, sondern auch ums Anbahnen neuer Kontakte: Redakteure treffen Regisseurinnen, Produzentinnen und Produzenten aus verschiedenen Ländern lernen sich kennen, um später gemeinsam Koproduktionen anzubahnen. Film ist ein People Business – und nirgendwo zeigt sich das mehr als auf einem Festival. Die Onlineausgabe eines renommierten Festivals kann somit keine dauerhafte Option sein. 2020 fielen die Internationalen Filmfestspiele von Cannes daher konsequenterweise aus.

Das betonte auch die kroatische Produzentin Ankica Jurić Tilić auf der IDM-Filmkonferenz INCONTRI, deren Focus-Panels den osteuropäischen Ländern gewidmet waren. Für Jurić Tilić liegt die große Stärke der Festivals mitunter abseits des Kinosaals: „Dabei ist der rege Austausch in Bars, in den zentralen Festival-Hotels und auf Empfängen mindestens ebenso wichtig wie die Coproduction-Meetings, die viele Festivals inzwischen anbieten“, so die Produzentin.

SCHNELLE ANPASSUNG

In eine ähnliche Richtung argumentierte Alberto Barbera, der künstlerische Leiter der Filmfestspiele von Venedig, auf einem Panel von INCONTRI, das sich der Zukunft der Festivals widmete: „Ich bin mir sicher, dass die physisch stattfindenden Festivals zukünftig sogar noch an Wichtigkeit gewinnen werden, weil in den vergangenen Monaten klar wurde, was durch eine reine Online-Edition alles verloren ging“, so Barbera. Für die A-Festivals und ihre Filme ist dies vor allem das Marketing: Der Gang über den roten Teppich, die knisternde Spannung des Wartens und Präsentierens, die Pressekonferenzen und die Atmosphäre, die entsteht, wenn tausende Menschen mit ähnlichen Interessen am selben Ort weilen – all das wird sich online nicht reproduzieren lassen.

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Piera Detassis, Präsidentin der David di Donatello Akademie, die den gleichnamigen italienischen Filmpreis vergibt, stimmte Barbera zu. „Unsere Preise wurden 2020 online vergeben“, so Detassis, „und seitdem verspüre ich in der Branche ein vorher in dem Ausmaß nicht gekanntes Bedürfnis nach Nähe – sowie den Wunsch, sich künftig stärker auf das Wesentliche zu konzentrieren.“

„Die Zeremonien müssen sich dahingehend verändern“, ergänzte Matthijs Wouter Knol, Direktor der Europäischen Filmakademie, „aber die Preise bleiben wichtig.“

Und trotzdem: Es ist erstaunlich und eine enorme Leistung, wie schnell die Filmfestivals sich auf die neue Situation einstellen vom Streaming Gebrauch machen konnten – etwas, mit dem bisher die wenigsten Erfahrungen gesammelt hatten. Venedig war das einzige der drei großen Festivals, die bereits seit mehreren Jahren eine Sektion auch online anboten: Für die Filme der Nebensektion „Orizzonti“ konnte man eine begrenzte Anzahl von Tickets online kaufen und sie zuhause streamen. Eine Lösung, an die sich viele andere erst noch gewöhnen mussten.

Bereits wenige Wochen nach dem Lockdown 2020 gab es die ersten Onlinefestivals, bei denen man Tickets für einen zeitlich begrenzten Zugang zu den Filmen erwerben konnte. Viele Festivals beschränkten sich dabei nicht auf die Filme selbst, sondern zeigten auch Einführungen und Diskussionen und versuchten so, das präsent zu halten, was sie eigentlich auszeichnet: den Kontakt zwischen Film, Kreativen und Publikum.

Sie stützten sich dabei auf eine Infrastruktur, die schon vorher existierte, aber noch ein Nischendasein führte und zeigten ihre Filme über Vimeo oder Festival Scope, beides Plattformen, über die schon seit längerem Video on Demand abgerufen werden konnte. Später entstanden auch neue Angebote, die sich gezielt aus den Erfahrungen des Lockdown entwickelten, wie beispielsweise Cinema Lovers in Deutschland. Sieht man vom fehlenden Austausch vor Ort ab, sind die Erfahrungen, die Festivals und Publikum bei den Onlineausgaben gesammelt haben, durchaus gut. Gerade für Veranstaltungen, die sich mit ihrer Auswahl an eine bestimmte Interessensgemeinschaft richten wie beispielsweise Festivals mit schwul-lesbischen Filmen oder die von und für Minderheiten wie Roma kuratiert werden, ist solch eine Ausweichmöglichkeit wichtig, um das Stammpublikum und die Gemeinschaft durch den Diskurs um die Filme zusammenzuhalten.

Eine Onlinelösung ist aber längst nicht für alle Veranstaltungen möglich. Festivals, die sich z. B. auf die Aufführung alter Filme in 35mm spezialisiert haben, müssen abwarten, bis sie ihre Schätze wieder vor Ort zeigen können. Und es besteht die Gefahr, dass die Erwartung geweckt wird, Festivals sollten künftig einen Teil ihres Programms immer online anbieten. Dem Vorteil der größeren Reichweite, der ja besonders für kleinere, lokale Festivals interessant sein könnte, setzen Kritikerinnen und Kritiker aber entgegen: Dieser künstliche Modus der permanenten Verfügbarkeit beraubt Festivals letztendlich auch ihrer Exklusivität.

TREFFPUNKTE FÜR FILMKULTUR

Lukas Pitscheider leitet die Dolomitale. Das „Filmfestival der Dolomiten“ legt in seinen Wettbewerben den Fokus auf den alpenländischen Film und findet jährlich Ende September statt. Auch Pitscheider ist der festen Überzeugung, dass die Nachfrage nach physischen Filmveranstaltungen riesig sein wird, sobald es die Bestimmungen wieder zulassen. „Unser Ziel ist es, die Menschen zusammen- und von den Bildschirmen wegzubringen“, sagt er. Da die Dolomitale im September stattfindet, konnte das Festival mit Einschränkungen und Auflagen auch 2020 über die Bühne gehen. „Wir hatten zur Sicherheit sogar ein Autokino geplant – Hauptsache, wir müssen nicht streamen“, lacht Pitscheider. Dabei wurde sein Organisationsteam von zahlreichen Streaming-Dienstleistern kontaktiert. „Wir haben ja noch nicht mal ein Kino! Es wäre schwer vermittelbar, wenn ein langfristiges Ziel unserer Arbeit die Eröffnung eines Kinos im Ort ist und wir dann aufs Streaming ausweichen“, sagt der Leiter des Festivals, dessen Ausgabe 2021 kurz bevorsteht.

Größere lokale Festivals wie jenes in Bozen mussten andere Lösungen finden: Das Bolzano Film Festival Bozen entschied sich 2021 für eine Onlineausgabe, nachdem die Veranstaltung ein Jahr zuvor abgesagt werden musste, da sie im April genau in den ersten Lockdown fiel. „Es war eine Schockphase“, erzählt Festivalleiterin Helene Christanell. „Wir hatten ja schon alles vorbereitet und fühlten uns dem Publikum, den Filmen und Sponsoren verpflichtet.“ Bis Ende November versuchte man, das Programm noch präsentieren zu können, bis man sich dann doch dazu durchrang, es endgültig abzusagen. 2020 wäre die 34. Ausgabe des Festivals gewesen, nun ist 2021 die Nummer 34. Zwar konnte die Veranstaltung in diesem Jahr wieder nicht vor Ort stattfinden, Christanells Team hatte aber mehr Zeit, um sich auf eine Onlineausgabe vorzubereiten. Zudem konnte man auf die Erfahrungen anderer Festivals im Netzwerk zurückgreifen und mit Pantaflix einen bewährten Streamingpartner nutzen.

Ein Publikumsfestival wie das in Bozen macht sein Programm hauptsächlich für die Menschen vor Ort. Mit der Onlineausgabe konnte man deutlich mehr Zuschauerinnen und Zuschauer in der Region erreichen, die vielleicht sonst nicht für einen Film den Weg in die Südtiroler Landeshauptstadt zurückgelegt hätten. Ein wichtiges Merkmal des Bozner Festivals sind die Gespräche zwischen Publikum und Kreativen, die sich im intimen Rahmen des Filmclub-Kinos in der Innenstadt vor und nach den Präsentationen einfach ergeben. Deswegen hat man Filmgespräche vorab aufgezeichnet und mit den Filmen online gestellt; sie sind noch immer auf der Festivalwebsite abrufbar. „Aber ohne die Aussicht auf ein Festival vor Ort ist eine Onlineveranstaltung nicht attraktiv“, sagt Christanell. „Auch, weil wir mit unserer Arbeit neues, junges Publikum für das Kino begeistern wollen, das als Drehscheibe für die Begegnung von Film, Publikum und Gästen ungemein wichtig ist.“

Neues Publikum für Filme interessieren und so die Idee der Filmkultur weiterzutragen: Auch das ist eine wichtige und nicht zu unterschätzende Aufgabe von Filmfestivals. Und zudem ein Punkt, in dem man sich vom Streaming-Allerlei deutlich abheben könnte, wie Matthijs Wouter Knol auf dem INCONTRI-Panel betonte. Vermittlung ist etwa bei der Berlinale traditionell sehr wichtig, ein Gedanke, aus dem heraus sich damals das Forum des Jungen Films gegründet hatte und seit einigen Jahren die Sektion Talents, ein pulsierender Treff des Filmnachwuchses.

Für Carlo Chatrian, den neuen künstlerischen Leiter der Berlinale, war es daher ein besonderes Anliegen, neben dem Filmmarkt, der im März dieses Jahres an fünf Tagen online stattfand, im Sommer ein Open-Air-Programm der diesjährigen Berlinale-Auswahl zu veranstalten, die im März nur sehr eingeschränkt gezeigt wurde. Der gestreamte Filmmarkt stieß auf ein sehr breites und überaus positives Echo, sowohl seitens der Käuferinnen und Käufer als auch der Produzentinnen und Produzenten. Letztere erhielten eine minutengenaue Auswertung darüber, wer sich den Film angesehen hatte. Als Ergänzung wird die Berlinale diese Onlineausgabe sicher auch in den kommenden Jahren weiterführen. Das Open-Air-Programm im Sommer bleibt aber hoffentlich eine einmalige Sache – „auch wenn es sozusagen ein Heimspiel ist“, scherzte Chatrian auf dem INCONTRI-Panel, der dabei mit seiner langjährigen Erfahrung als Leiter des Locarno Film Festivals punkten kann.

Mehr als bei anderen A-Festivals ist für die Berlinale das lokale Publikum enorm wichtig. Ein Film kann hier bis zu 20.000 Besucherinnen und Besucher verzeichnen, das Programm ist mit der enormen Menge an Filmen nur möglich, weil es ein starkes Interesse des Publikums und zahlreiche Abspielmöglichkeiten in der Stadt gibt. „Man muss künftig überlegen, wie man diese sozialen Zusammenkünfte ermöglicht“, gab Chatrian zu bedenken. Immerhin hat die diesjährige Jury der Berlinale mit dem goldenen Bären für Radu Judes Bad Luck Banging or Loony Porn einen der ersten Filme ausgezeichnet, die vor dem Hintergrund der aktuellen Pandemie spielen und bei der man die Protagonistin die meiste Zeit mit einer Maske im Gesicht sieht – auch inhaltlich ein deutlicher Hinweis auf sich verändernde Realitäten.

 

 

Text Florian Krautkrämer
Illustration Oscar Diodoro
Veröffentlicht am 14.01.2022