Das „Hirschmädchen“ oder was bedeutet Liebe?

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In Deer Girl erzählt Francesco Jost von einer schwierigen Kindheit, häuslicher Gewalt und Spannungen. Die italienisch-schweizerische Koproduktion wurde in und rund um Franzensfeste in Südtirol gedreht. Ein Setbesuch

Ein grauer Jeep fährt eine verlassene Forststraße hoch. Die Stille des Waldes wird nur von dem Rauschen des Baches unterbrochen. Ein Jäger steigt aus, zieht einen Beutel und ein Gewehr aus dem Auto und macht sich auf ins Dickicht des Waldes. Sein Name ist Mario (Giorgio Tirabassi, der in zahlreichen Produktionen für Kino und Fernsehen mitgewirkt hat; besonders erfolgreich waren seine Interpretation von Paolo Borsellino und die Serie Squadra mobile) und macht sich auf die Suche nach der Beute, die er seit jeher verfolgt: ein Hirsch.

„Hirsch“ heißt auf Englisch deer. Die Szene stammt aus dem Film Deer Girl, der zwischen dem 26. Mai und dem 18. Juni in Südtirol gedreht wurde und im Herbst im Kino erscheinen soll. Wer ist dieses „Hirschmädchen“? Was verbindet das Mädchen mit dem Tier? Die Protagonistin heißt Rachele (gespielt von der 25-jährigen Denise Tantucci, die für Kino und Fernsehen vor der Kamera stand und vor allem durch die Serie Braccialetti Rossi berühmt wurde). Die junge Frau kehrt in ihre Heimatstadt zurück, um den 25. Hochzeitstag ihrer Eltern zu feiern, von Mario und seiner Frau Ania (Anita Caprioli, die eine lange Karriere hinter sich hat; zu ihren jüngsten Arbeiten gehören Sorelle per sempre für das Fernsehen und Vita da Carlo für Amazon Video). Der wahre Protagonist des Films ist aber nicht der Hirsch, sondern die Liebe. Die Liebe, für die die Eltern bewundert werden, hinter der sich aber eine schmerzhafte Situation verbirgt, die Racheles Kindheit geprägt hat. Sie muss sich mit den Schatten der Vergangenheit und mit der Beziehung zu ihrem gewalttätigen Vater auseinandersetzen. Und dabei die Frage aller Fragen beantworten: Was ist Liebe?

Was bedeutet Liebe?

Eine große Frage. „Ich kann nicht allzu viel über die Rolle der Liebe im Film verraten“, sagt Denise Tantucci, bevor sie wieder aufs Set muss, „aber diese Frage stelle ich als Rachele gewissermaßen dem Publikum. Deshalb kann jeder Zuschauer seine eigene Antwort darauf finden.“ Rachele will auf keinen Fall die Liebesbeziehung der Eltern replizieren. Eine Beziehung gekennzeichnet von Momenten der Gewalt, die die Kindheit der Tochter geprägt haben. Die konfliktreiche Beziehung zum Vater treibt Rachele schließlich dazu, den Hirsch zu töten, den es Mario selbst nie zu erschießen gelang. Aber woher kommt die Idee für den Titel Deer Girl?

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Vom Laser Marmor in die Wälder des Eisacktals

Die Antwort kann nur vom Drehbuchautor selbst kommen, der in diesem Fall auch der Regisseur ist: Francesco Jost. Er wurde in Locarno geboren und studierte Fotografie und Grafik am CSIA (Centro scolastico per le Industrie Artistiche) in Lugano. Dies ist sein zweiter Spielfilm, aber er hat früher bereits lange als Freelance-Grafiker, Videographer, Kurzfilm- und Dokuautor gearbeitet.

„Als ich begann, an dieser Geschichte zu arbeiten, hatte ich bereits beschlossen, in Südtirol zu drehen“, erzählt Jost. „Der Film hätte in Laas spielen sollen, ich war fasziniert von den Marmorbrüchen. Der Schauplatz im Vinschgau war dann aber doch zu isoliert, ich suchte eher nach einer Kulturlandschaft. Hier in Franzensfeste ist es perfekt: es fahren Züge vorbei, es gibt eine Autobahn. Die Innenaufnahmen haben wir in einem wunderschönen alten Haus in Vahrn und im Hotel Post in Franzensfeste gedreht. Die Szenen im Freien wurden in den Wäldern von Mittelwald, am Vahrner See und im Pustertal aufgenommen. Aufgrund der Verlegung des Schauplatzes konnte der Protagonist natürlich nicht mehr im Marmorabbau tätig sein. Aus ihm wurde ein Jäger. Daher der Titel.“

Neben den bereits erwähnten Schauspielern wirkten Matteo Olivetti, Anita Kravos und drei lokale Schauspieler mit: Bruno Da Soghe, Bryan Ferraro und Maya Zacchino, die Rachele als kleines Mädchen spielt.

Fachkräfte gesucht und gefunden

Deer Girl ist eine italienisch-schweizerische Koproduktion von Vivo Film und Ventura Film, letztere wurde 1991 von Andres Pfaeffli (2020 verstorben) und Elda Guidinetti im Tessin gegründet. „Das ist der dritte Film, den wir in Südtirol drehen“, sagt Elda Guidinetti. „Wir kommen gerne hierher, weil abgesehen vom Standort auch finanzielle Unterstützung geboten wird, die kein Selbstzweck ist: Filme zu drehen bedeutet auch, neue Berufsbilder zu schaffen, nicht nur künstlerische, sondern auch technische. Abgesehen von den Mitarbeitern der Produktion gibt es in unserer Crew zahlreiche lokale Mitglieder.“

Das italienische Produktionshaus Vivo Film von Gregorio Paonessa und Marta Donzelli hat bereits vier Filme in Südtirol gedreht: Vergine giurata von Laura Bispuri, I figli della notte von Andrea De Sica, der gänzlich in Toblach gedreht wurde, Siberia von Abel Ferrara und einen weiteren Film von Andrea De Sica, Non mi uccidere. Aus unserem Gespräch mit Paonessa über die Situation der Kinowelt nach der Corona-Pandemie geht etwas Interessantes hervor: „Obwohl die Säle aufgrund der Nachwirkungen der Pandemie fast leer sind, sind die Filmsets sehr belebt. Es gibt viel Arbeit. Das Problem ist, dass qualifiziertes Personal fehlt. Deshalb sind die lokalen Förderungen wichtig, weil sie nicht nur eine finanzielle Unterstützung sind, sondern es auch ermöglichen, am Standort Fachkräfte auszubilden, die für die Produktion gebraucht werden.“

Dazu zählt zum Beispiel der aus Salerno stammende Giuseppe Crudele, ZeLIG-Absolvent und mittlerweile in Bozen ansässig, der am Set als Script Continuity agierte. Oder die lokalen Techniker wie der 26-jährige Mattia Ottaviani, der für Deer Girl als Kameraassistent tätig war. Seine Leidenschaft ist die Steadicam: „In Non mi uccidere habe ich Giorgio Toso dabei assistiert und einen Einblick in die Arbeit mit der Steadicam gewonnen. Ich würde mich gerne in diesem Bereich spezialisieren. Ich habe verschiedene Kurse besucht und nutze jede Gelegenheit, um dazuzulernen.“ Ottaviani ist derzeit auch an den Dreharbeiten zu einer Doku über Michael Gaismair beteiligt.

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Vergangenheit und Gegenwart

Südtirol? Südtirol! Hauptdarsteller Giorgio Tirabassi pflegt eine lange Beziehung zur Region: „Es hat sehr früh angefangen. Mit 10 Jahren kam ich das erste Mal mit meiner Familie nach Brixen in den Urlaub. Ich komme aus Rom, und Südtirol war für mich eine neue Welt: Wälder, Berge, Häuser mit Schrägdächern ... Danach kam ich regelmäßig hierher, aber es ist das erste Mal, dass ich hier einen Film drehe. Ich habe mich für das Projekt entschieden, weil mir die Geschichte von Jost gefällt. Wir haben uns gleich gut verstanden. Da er auch das Drehbuch geschrieben hat, hatten wir die Gelegenheit, einige Charakterzüge meiner Figur zu vertiefen. Mario hat ungelöste innere Konflikte, aus denen sich gewissermaßen die körperliche und psychische Gewalt gegenüber seiner Frau ergibt.“

Tochter Rachele kehrt in diese Welt zwischen Realität und Schein zurück, die Geheimnisse und Schatten zu Tage fördert, wo sie sich mit ihren Erinnerungen an die Vergangenheit auseinandersetzen muss. Und zu Deer Girl wird.

Text Paolo Florio
Foto © 2022 ventura film, Vivo film
Veröffentlicht am 08.07.2022

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